Bei Menschen mit einer geistigen Behinderung bestehen neben einer hohen Inzidenz für eine Borderline-Persönlichkeitsstörung eine hiervon unabhängige erhöhte Impulsivität sowie emotionale Instabilität.
Ursachen und Entstehung
Neben hirnorganisch zu diskutierenden Ursachen kommt es häufig im Rahmen von Bevormundung mit fehlenden Lernmöglichkeiten hinsichtlich Problemlösungen sowie Wut und Aggression durch Invalidierung der Bedürfnisse zu diesem Verhalten. Durch entsprechende Erfahrungen lernen die Betroffenen zusätzlich, dass sie erst bei Eskalation bis hin zu intolerablen, meist gewalttätigen Verhaltensweisen wahr- und ernst genommen werden.
Therapeutischer Ansatz: DBToP
Im Rahmen des Behandlungsprogramms geht es elementar darum, Menschen mit geistiger Behinderung in die Lage zu versetzen, ein günstiges Verhalten in schwierigen Situationen einsetzen zu können. Hierfür sollen Menschen mit impulsiven Verhaltensweisen die Möglichkeit erlangen, ihre Emotionen zu diskriminieren, die dazugehörigen Körpersymptome wahrzunehmen sowie ein möglicherweise eingesetztes dysfunktionales Verhalten zu reflektieren. Durch eine sensiblere Selbstwahrnehmung innerer Angespanntheit sowie das Erlernen praktischer Fertigkeiten eignen sie sich alternative Umlenk- und Abreaktionsstrategien an.
Darüber hinaus sollte eine Psychoedukation des näheren sozialen Umfelds erfolgen sowie über allgemeine Besonderheiten im Umgang mit Menschen mit geistiger Behinderung aufgeklärt werden. Im Folgenden werden die Bestandteile des von uns entwickelten Therapieprogramms kurz vorgestellt. DBToP wurde wissenschaftlich evaluiert (1).
Module des DBToP-Programms
Das Therapieprogramm umfasst verschiedene Module, die im Folgenden kurz vorgestellt werden:
Lesen Sie auch: "Borderline": Drehorte und ihre Bedeutung
- Emotionsregulation: Ziel dieses Moduls sind die Wahrnehmung, die Beobachtung, die Beschreibung, die Verbalisierung und das Verstehen eigener Gefühle oder emotionaler Zustände. Es soll konstruktiv mit Gefühlen und Emotionen umgegangen werden, eigene Gefühle reguliert und funktional beeinflusst werden. Das «Gefühlsprotokoll» beinhaltet eine dokumentarische Erfassung des gegenwärtigen emotionalen Zustands zu drei verschiedenen Tageszeiten. Die Unterscheidung orientiert sich an sechs Gefühlen: Freude, Trauer, Wut, Stolz, Angst und Scham. Beim Ausfüllen sind Mehrfachnennungen möglich. Anhand von Situationen mit einer entsprechenden Emotion werden Körpersensationen mithilfe eines Torsos erarbeitet. Erweiternd werden Gemeinsamkeiten und Unterschiede einzelner emotionaler Zustände aufgegriffen und miteinander verglichen.
 - Innere Achtsamkeit: Ziel dieses Moduls ist die Schulung der konkreten Sinneswahrnehmungen. Für Patienten mit geistiger Behinderung ist es oft schwierig, Zusammenhänge zwischen aktueller eigener Befindlichkeit, individueller Wahrnehmung, eigenem Denken/eigener Interpretation der «Umwelt» und persönlichem Reagieren (Problemverhalten) zu erkennen. Ein theoretischer Zugang überfordert meist; hingegen hat sich ein praktisches Vorgehen mit Fokus auf die Sensibilisierung der Sinnesmodalitäten Tasten, Sehen, Hören, Riechen und Schmecken bewährt. Es soll eine bewusste visuelle, gustatorische, olfaktorische, haptische und auditive Wahrnehmung gefördert werden. Tasterlebnisse intensiv und bewusst erfahren werden (z. B. Atemübung, Klopfübung).
 - Interpersonelle Kompetenzen: In einem weiteren Modul trainieren sie zwischenmenschliche Fertigkeiten, damit sie ihre Bedürfnisse formulieren können und somit Bevormundung und Entwertung in schwierigen Situationen reduziert werden können. Ziel dieses Moduls ist die zufriedenstellende Gestaltung von zwischenmenschlichen Beziehungen und dadurch eine Erhöhung der Wahrscheinlichkeit für angenehme Emotionen.
 - Kontingenzmanagement: Neben diesen Modulen wird durchgängig ein Kontingenzmanagement eingesetzt, das ein funktionales Verhalten konditioniert. Für jedes Kontingenzmanagement ist es das Wichtigste, dass die Beteiligten ein einheitliches Vorgehen einsetzen und eine grösstmögliche Transparenz besteht. Für Menschen mit geistiger Behinderung ist es wichtig, dass die Anzahl der erwünschten Verhaltensweisen den Fähigkeiten des Betroffenen, diese zu erfassen, angepasst werden. Empfehlenswert ist es, sich zunächst nur wenigen dringlichen Themen zu widmen. Bei entsprechend günstig eingesetztem Verhalten wird dieses durch eine positive Rückmeldung und die Gabe eines Tokens verstärkt. Bei einer entsprechend definierten Anzahl an Tokens erhält der Betroffene schliesslich eine Belohnung. Ein Token kann alles sein: von einem «Haken» auf einem Plan bis zu kleinen Aufklebern. Günstig erwiesen haben sich jedoch vor allem Spielchips aus einem Roulettespiel, die in einem Becher gesammelt werden können. Die positive Rückmeldung kann dadurch optisch erfasst werden, und die noch fehlenden Chips bis zur vereinbarten Belohnung können abgeschätzt werden. Token sollen für dysfunktionales Verhalten nicht weggenommen werden. Die Vergabe sollte vielmehr fortlaufend bei erneut gezeigtem günstigem Verhalten erfolgen, sodass der Patient anhaltend motiviert ist, an seinen Verhaltensweisen zu arbeiten. Es ist darauf zu achten, dass die Belohnungen für den Betroffenen attraktiv sind, dabei jedoch in regelmässigen Abständen vom Betreuersystem realisiert werden können. Am besten eignen sich kurze Einzelkontakte (5 bis 10 Minuten) mit den Betreuenden, die die Patienten frei gestalten können. Bestrafung wird in den Tokenplänen nicht verankert oder genutzt. Es empfiehlt sich, mindestens einmal zum Ende einer Schicht eines Betreuerteams oder nach einer festgelegten Zeiteinheit das Verhalten der letzten Stunden zu reflektieren und abhängig hiervon eine positive Rückmeldung sowie einen Token zu geben. In Abhängigkeit von der Fertigkeit, das eigene Verhalten, bezogen auf eine Zeiteinheit, zu überblicken, sollte gegebenenfalls eine Verstärkung für kürzere Intervalle mit günstigem Verhalten (z. B. «friedliche Teilnahme an Gruppe») erfolgen.
 - Stresstoleranz: Ziel dieses Moduls sind eine Verbesserung der Impulskontrolle durch eine sensiblere Selbstwahrnehmung innerer Angespanntheit sowie das Erlernen praktischer Fertigkeiten als Umlenk- und Abreaktionsstrategien. Nach entsprechender Psychoedukation werden die Betroffenen zu einer Selbstbeobachtung der inneren Anspannung angeleitet. Die hierbei gemachten Beobachtungen werden in Spannungskurven visualisiert. Die Selbstbeobachtung sollte durchgängig erfolgen. Die Betroffenen werden im Verlauf angeleitet, Erfahrungen mit diesen Skills im Rahmen von unterschiedlich ausgeprägten Anspannungszuständen zunächst assistiert und im Verlauf in zunehmender Eigenverantwortung zu sammeln. Einfluss der Anwendung der Skills auf die Anspannung wird in den Spannungskurven erfasst. Es erfolgt eine Einstufung in ein Graduierungssystem innerer Anspannung, sodass jeder Skill einem zuvor definierten Spannungsniveau zugeordnet wird. Diese Zuordnung sollte stets überprüft und gegebenenfalls erweitert werden. Ziel hiervon ist es, Strategien für unterschiedliche Anspannungszustände parat zu haben, ohne zerstörerischen Impulsen nachzugehen oder der Anspannung hilflos ausgeliefert sein zu müssen.
 
Skillsketten zur Regulierung hoher Anspannungszustände
Zur Regulierung besonders hoher Anspannungszustände bewährten sich die sogenannten Skillsketten. Eine Skillskette beinhaltet die Verknüpfung von ausgewählten Stresstoleranzskills, die in einer individuell erarbeiteten Reihenfolge unterbrechungsfrei durchgeführt werden. Es ist darauf zu achten, dass man mit einem besonders starken Skill beginnt und mit einem schwachen Skill endet. Die Skillskette sollte auch bei Angabe von deutlicher Besserung bis zum Ende durchgeführt werden, damit das Niveau der Grundspannung erreicht wird.
Während erhöhter Anspannungszustände können Menschen deutlich schlechter auf ihre kognitiven Fähigkeiten zurückgreifen. Fertigkeiten müssen deshalb im Vorfeld intensiv eingeübt werden, sodass sie verinnerlicht und damit in etwaigen Situationen abrufbar sind. In hohen Anspannungszuständen sollten deshalb auch keine neuen Stresstoleranzskills ausprobiert werden. Nach entsprechenden Erfahrungen und Fertigkeiten, diese eigenverantwortlich zielführend einzusetzen, kann ein Notfallkoffer erstellt werden.
Krisenmanagement
Menschen mit geistiger Behinderung verfügen nicht selten über ein eingeschränktes Spektrum an Verhaltens- und Reaktionsweisen, um mit schwierigen Situationen und einhergehenden Emotionen umzugehen. Deshalb kann es auch trotz engen Absprachen, bestehendem Hilfesystem und vorhandener therapeutisch tragfähiger Beziehung zu akuten Krisen und Belastungssituationen kommen. Durch eine hektische und unzureichend strukturierte Deeskalation kann es sogar zu einer Zunahme von Anspannung, Ängsten und Wut kommen, welche häufig ein impulsives, dysfunktionales Verhalten bedingen. Wichtig ist es deshalb, Zuversicht zu signalisieren, eine einfache Sprache mit kurzen, validierenden und eindeutigen Aussagen zu wählen und mindestens 5 bis 7 Sekunden Zeit für Antworten zu lassen und keine umgehende Problembewältigung zu versuchen.
Psychoedukation für das soziale Umfeld
Das soziale System des Betroffenen besitzt meist viel Erfahrung im Umgang mit emotionaler Instabilität und mit als schwierig erlebten Verhaltensweisen sowohl des Betroffenen als auch anderer Klienten. Zum Teil automatisch ablaufende Verhaltensweisen seitens des Betroffenen und auch seines Umfelds sollten gemeinsam betrachtet und Lösungen wertschätzend geprüft werden. Daneben sollte eine vollständige Transparenz hinsichtlich der Therapie bestehen. Insbesondere ist im Rahmen des Kontingenzmanagements ein gemeinsames transparentes Vorgehen zu erarbeiten. Insgesamt sollten auch die einzelnen anderen Module allen Bezugspersonen des Betroffenen bekannt sein.
Auch wenn den Angehörigen und Betreuern die jeweiligen Besonderheiten bei Menschen mit geistiger Behinderung selbstverständlich erscheinen, sollten diese reflektiert werden, um das eigene Verhalten adaptieren zu können und Frustration sowie Bevormundung zu minimieren.
Lesen Sie auch: Ursachen und Symptome der BPS
So finden sich bei Menschen mit geistiger Behinderung regelhaft in unterschiedlicher Ausprägung Einschränkungen von Sprachverständnis und -gebrauch, der Ausdrucksfähigkeit, der Vorstellungs- und Abstraktionsfähigkeit, der Aufmerksamkeitsspanne, der Konzentrationsfähigkeit, der Mnestik, der Aufnahme- und Introspektionsfähigkeit, der Handlungsplanung, der Verständnisfähigkeit und der Lerngeschwindigkeit. Es ist deshalb auf eine vereinfachte Sprache, eine klare Struktur und ausreichende Wiederholungen mit vereinfachten Inhalten zu achten. Der Verzicht auf Geschriebenes und der Einsatz von Piktogrammen und Visualisierung beziehungsweise eine nonverbale Kommunikation sollten abhängig von den Fertigkeiten des Klienten bedacht werden. Sofern möglich, ist auf ein erlebnisnahes Lernen zu achten, beispielsweise können mehr Rollenspiele mit weniger Theorie sowie mehr Möglichkeiten der praktischen Erfahrung zielführender beim Erlernen von Strategien im Umgang mit Anspannung sein. Ebenfalls sollte im Rahmen der Therapie auf eine Reduktion von Ablenkungsmöglichkeiten geachtet werden.
DBToP setzen wir bei Menschen mit leichter geistiger Behinderung ein. Die Herausforderung besteht in der Therapieadhärenz im Rahmen einer engen Zusammenarbeit verschiedener Berufsgruppen wie zum Beispiel Heilpädagogen, Pflegepersonal, Ärzte und Therapeuten.
Lesen Sie auch: Einblicke in Borderline - Grenzenlose Verbrechen
tags: #Verhaltensanalyse #Borderline #Beispiel