Die Morde von Hanau haben weitreichendes Entsetzen ausgelöst.
Gleichzeitig wurde aber auch deutlich, dass der Täter offensichtlich mit schweren psychischen Problemen zu kämpfen hatte.
Mehrere Fachpersonen kamen zu dem Schluss, dass der Täter mindestens unter einer wahnhaften Störung, vermutlich aber unter einer schizophrenen Erkrankung gelitten hat.
Die Tat von Hanau ist deshalb auch kein terroristischer Akt, wie in Berlin, Nizza oder des NSU, da die Hanauer Tat Folge eines innerpsychischen Konfliktes und wohl nicht im Namen einer übergeordneten Ideologie erfolgt ist.
Aber dominierende gesellschaftspolitische Entwicklungen sind wie eine Folie, vor der sich häufig die jeweiligen Wahninhalte entwickeln.
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Ob der Täter unter solchen Umständen krankheitshalber exkulpiert werden kann, wird der weitere Fachdiskurs zeigen.
Bemerkenswerterweise hat es im Hanauer Fall bisher noch keine Diskussion über die Gefährlichkeit psychisch Kranker, insbesondere schizophren Erkrankter, gegeben.
Vermutlich erklärt sich das daraus, dass die politische Interpretation der Tat im Moment alles überlagert.
Aber dass in der Öffentlichkeit das Bild des gefährlichen Schizophrenen aktiviert wurde, steht m. E. ausser Frage - einfach weil es nie überwunden war.
Die moderne psychiatrische Versorgung hat in den letzten 50 Jahren die Betroffenen aus ihrer Isolation hinter den Mauern psychiatrischer Kliniken befreit.
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Das ging alles andere als reibungslos vonstatten.
Dort, wo z. B. Heime für psychisch kranke Menschen eröffnet wurden, gab es häufig erbitterten Widerstand der Nachbarschaft.
Man könne die Kinder nicht mehr unbegleitet aus dem Haus lassen, eben wegen der mutmasslichen Gefährlichkeit dieser Menschen.
Ein Wertverlust der eigenen Immobilie drohe, was angesichts der vorgenannten Einstellungen nicht verwundert.
Selbst wenn diese Menschen freundlich erschienen, müsse man vorsichtig sein.
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Es ist das Bild des Serienmörders aus «Dr. Jekyll and Mr. Hyde», der tagsüber der freundliche Doktor ist und nachts mordet, das prototypisch für den schizophrenen Menschen steht.
Angst und Ablehnung in der Gesellschaft
Verschiedene Befragungen der Schweizer Bevölkerung haben gezeigt, wie ablehnend die Bevölkerung gegenüber psychisch Kranken ist, insbesondere gegenüber Schizophreniekranken.
Man kann sich gerade noch vorstellen, eine solche Person als Arbeitskollegen zu haben, aber eine Person, die einmal an einer schizophrenen Psychose gelitten hat, als Babysitter für die eigenen Kinder zu beschäftigen, ist nahezu undenkbar.
Um es gesagt zu haben: Die allermeisten Schizophreniekranken waren, sind und werden nie für irgendjemand ausser für sich selbst gefährlich.
Ungefähr 10 Prozent der Menschen mit dieser Diagnose begehen Selbstmord, nicht zuletzt, weil sie an der gesellschaftlichen Realität zerbrechen.
Und darüber hinaus stigmatisieren sich diese Menschen auch noch selbst; sie halten sich für schwach, unfähig und erstarren in Hilflosigkeit.
Rund ein Viertel der Bevölkerung braucht während eines Jahres Hilfe von Fachleuten wegen psychischer Störungen.
Quasi jede Familie ist davon betroffen, wenige reden darüber.
Häufig bedanken sich meine Patienten für die geleistete Hilfe, weiterempfehlen könnten sie mich leider nicht, weil sie mit niemandem darüber sprechen könnten, dass auch sie betroffen gewesen seien.
Psychische Gesundheit und Ferndiagnosen
Seit Beginn der Invasion der Ukraine fragt sich die Welt, was im Kopf des russischen Machthabers Wladimir Putin vorgehen mag.
Ob er gar psychisch krank sein könnte.
Psychologen und Psychiater weigern sich, diese Frage zu beantworten - aus gutem Grund.
Das Verhalten des 69-jährigen Präsidenten Russlands hält die Welt in Atem.
Ist Wladimir Putin noch zurechnungsfähig, oder ist er gar psychisch krank geworden?
Befeuert wird die Diskussion von Berichten, wonach sich das Verhalten des Machthabers seit Beginn der Pandemie verändert habe.
Aber können wir anhand von Beobachtungen in Reden und aus Berichten von einer möglichen psychischen Krankheit sprechen?
Damit hatte Bishop den Finger in die Wunde gelegt: Eine Beurteilung der psychischen Gesundheit im psychiatrischen Sinn ist nicht auf Distanz, sondern nur im persönlichen Gespräch möglich.
Die Schweizerische Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie (SGPP) hält dies nicht einmal explizit fest; hierzulande steht eine Ferndiagnose als Methode aus fachlichen wie auch aus ethischen Gründen schlichtweg nicht zur Debatte.
Auch die Föderation der Schweizer Psychologinnen und Psychologen (FSP) bestätigt, dass Psychologinnen und Psychologen keine Ferndiagnosen stellen.
Die American Psychiatric Association (APA) verbietet Psychiatern gar explizit eine Diagnose ohne Untersuchung.
Voraussetzungen für eine Diagnose
Gespräche sind eine notwendige Voraussetzung für eine Diagnose im psychiatrischen Sinn.
Kann sich ein Patient orientieren?
Ist sein Denken und Sprechen kohärent?
Ist sein Gefühlsausdruck starr, labil und ablenkbar oder inadäquat?
Füllt er Gedächtnislücken mit Erfundenem, ohne es selber zu merken?
Solche Fragen können nur in einem Gespräch beantwortet werden.
Klinikern stehen zur Erhebung des sogenannten Psychostatus, des momentanen psychopathologischen Befundes, ausführliche Leitfäden zur Verfügung.
Einer davon, das AMDP-System, verzeichnet mehr als hundert psychische Merkmale.
Sie reichen von Orientierungs- und Bewusstseinsstörungen über formale und inhaltliche Denkstörungen bis zu Störungen der emotionalen Befindlichkeit.
Patienten erzählen nicht unbedingt spontan, woran sie leiden; oft wissen sie es selber nicht genau.
Beispielsweise wird die Frage «Haben Sie Probleme mit dem Denken?» zunächst oft verneint.
Im Gespräch zeigt sich dann aber, dass der Patient auffällig häufig den Faden verliert und immer auf dieselben Themen zurückkommt - auch wenn der Diagnostiker andere Gesprächsthemen anbietet.
Gerade auch wahnhafte Vorstellungen und paranoides Erleben können nur im persönlichen Gespräch beurteilt werden.
Denkt der Patient, es sei eine Verschwörung gegen ihn geplant, so muss in Erfahrung gebracht werden, wie er diese Überzeugung begründet.
«Es ist mir beim Frühstück klargeworden - Beweise brauche ich nicht» oder «Der Tramführer hat mit dem Kopf genickt, damit ist es bewiesen» sind Aussagen, die wahnhaftes Erleben kennzeichnen.
Ohne direktes Nachfragen erfährt man dies nicht.
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