Epidemiologische Untersuchungen lassen vermuten, dass die Prävalenz posttraumatischer Belastungsstörungen (PTBS) bei Sportlern deutlich höher ist als in der Allgemeinbevölkerung und sie je nach Sportart bei 13 bis 25 Prozent liegt.
Die Diagnose einer Traumafolgestörung bei Sportlern ist häufig schwierig und muss im sportspezifischen Zusammenhang von klinisch erfahrenen und entsprechend ausgebildeten Psychiatern und Psychotherapeuten und/oder Psychologen gestellt werden. Im Gegensatz zur Allgemeinbevölkerung erscheinen traumabedingte psychische Erkrankungen bei Sportlern häufig maskiert, wobei Somatisierungen und Vermeidungsverhalten im Vordergrund stehen können.
Meist können vermeintlich therapieresistente Verletzungen oder auch Übertraining einer zugrunde liegenden Traumatisierung geschuldet sein.
Ursachen und Risikofaktoren
Gewalt und Missbrauch im Sport können Athleten jeglichen Alters betreffen, in allen Sportarten und auf jedem Leistungsniveau vorkommen und einmalig, anhaltend oder wiederholt auftreten.
Als häufigste Form von Gewalt im Leistungssport hat sich psychischer Missbrauch erwiesen.
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Erhöhtes Risiko besteht für:
- Minderjährige
 - Para- und LGBTQIA-Athleten (LGBTQIA: lesbian, gay, bisexual, transgender, queer, intersexual, asexual)
 - Angehörige ethnischer Minderheiten
 
Das Risiko von Gewalt und Missbrauch steigt möglicherweise mit dem Wettkampfniveau.
Die verfügbaren empirischen Daten weisen jedoch darauf hin, dass Gewalt und Missbrauch auch von anderen Mitgliedern des Betreuungsstabs ausgehen können, etwa von Mitgliedern des ärztlichen Teams oder von Sportfunktionären. Ausserdem lassen die neuesten Studien vermuten, dass Gewalt am häufigsten von männlichen Peers, also Trainings- und Teamkollegen, ausgeübt wird.
Der empirischen Forschung ist ausserdem zu entnehmen, dass es institutionelle Risikofaktoren gibt, die das Vorkommen von Gewalt und Missbrauch in bestimmten Sportorganisationen begünstigen. Dazu gehören die räumliche, organisatorische und kommunikative Abschottung gewisser Institutionen (z. B. die Suspendierung gängiger sozialer Regeln, die oft mit der Ausrichtung auf Höchstleistungen legitimiert wird), damit verbunden die Normalisierung von Gewaltanwendung und schliesslich eine weitverbreitete Schweigekultur.
Zudem werden Gewalt und Missbrauch innerhalb und ausserhalb des Sports selbst von Angehörigen der Gesundheitsberufe mangels spezifischen Trainings und Fachwissens oft nicht erkannt oder nicht angezeigt. Dazu trägt bei, dass es oft an geeigneten Instrumenten für die Erfassung von Gewalt und Missbrauch, an niederschwelligen Meldesystemen sowie an organisatorischem Support fehlt.
Psychische Folgen
Obwohl die Folgen von Gewalt und Missbrauch für die psychische Gesundheit verheerend sind und auch nach Jahren bei Sportlern mit Leistungsminderung und Erfolgseinbussen, früherem Ausscheiden aus dem Sport, Minderung des Selbstwerts, Störungen des Körperbilds, gestörtem Essverhalten und Essstörungen, Substanzgebrauchsstörungen, Depressionen, Ängsten, Selbstschädigungen und Suiziden einhergehen, fehlen eingehendere Untersuchungen zu diesem Thema.
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Die ersten traumatischen Erfahrungen können bereits früh in der Kindheit liegen und weitere können sich über die gesamte Lebensspanne der Sportler ziehen. Missbrauchserleben im Kindesalter, auf Englisch als «adverse childhood experiences» (ACE) konzipiert, führt nicht nur zu unmittelbaren Folgen für das betroffene Kind, sondern über verschiedene Mechanismen zu körperlichen und psychischen Folgestörungen im Jugend- und Erwachsenenalter.
Insbesondere eine Deregulierung der Impulskontrolle kann im Erwachsenenalter zu einer Zunahme von riskantem Verhalten führen und dadurch das Risiko für Verletzungen, beispielsweise Schädel-Hirn-Traumata, deutlich erhöhen. In einer Studie, in der ACE bei Spitzensportlern untersucht wurden, waren diejenigen mit höheren ACE-Werten anfälliger für Somatisierungs- und Verhaltensstörungen als jene mit niedrigeren Werten.
Zudem korreliert psychischer Missbrauch im Kindesalter mit langjährigen, komplexen posttraumatischen und dissoziativen Symptomen. Über diesen Mechanismus lässt sich erklären, dass manche Sportler nach wiederholten (Re-)Traumatisierungen im Jugend- und Erwachsenenalter dann auch komplexe Traumafolgestörungen erleiden, die häufig mit weiteren psychischen Problemen und Erkrankungen einhergehen und zu Leistungseinbussen führen.
So zeigte sich in einer Studie mit alpinen Skifahrern, dass diese vermehrt Angststörungen entwickelten, wenn sie Verletzungen von anderen Teammitgliedern miterleben mussten. Bezüglich retraumatisierender Erfahrungen müssen insbesondere sexuelle Übergriffe im Sport hervorgehoben werden.
In einer Studie mit professionellen Tänzern und Athleten erlebten 24,4 Prozent der Teilnehmer mit einer PTBS-Diagnose sexuelle Übergriffe. Bei 41 Prozent der sexuell missbrauchten Frauen und bei 29 Prozent der sexuell missbrauchten Männer waren die Übergriffe von Personen im Sport ausgegangen. Besonders betroffen waren Spitzensportler: 46,4 Prozent der sexuellen Übergriffe gingen von Sportpersonal und -funktionären aus, das im Vergleich zu 25,6 Prozent im Breitensport.
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Im Gegensatz zur Allgemeinbevölkerung erscheinen traumabedingte psychische Erkrankungen bei Sportlern häufig maskiert, wobei Somatisierungen und Vermeidungsverhalten im Vordergrund stehen können. Meist können vermeintlich therapieresistente Verletzungen oder auch Übertraining einer zugrunde liegenden Traumatisierung geschuldet sein.
Das Phänomen der Dissoziation ist als psychologische Abwehr zentral und gerade bei Sportlern häufig anzutreffen. Dissoziation ist häufig mit einem Trauma verbunden, bei dem psychologische Mechanismen die traumatischen Erinnerungen von bewusster Verarbeitung ausschliessen. Dissoziation kann eine adaptive, aktive mentale Fähigkeit sein, mit der Sportler die Leistung in Situationen mit hohem Stress verbessern können.
Dieser Mechanismus kann aber auch pathologische Dimensionen erreichen, wenn die Introspektionsfähigkeit dadurch vermindert wird und dissoziative Tendenzen bereits bei geringen Stressanforderungen aktiviert und eher im Sinne einer Betäubung genutzt werden.
Früherkennung und Prävention
Aus den dargestellten epidemiologischen Befunden ergibt sich, dass Kliniker bei Konsultationen von Athleten wegen psychischer Probleme und Erkrankungen die Möglichkeit von Gewalt- und Missbrauchserfahrungen systematisch in Betracht ziehen und mit geeigneten diagnostischen Instrumenten abklären sollten.
Diagnostik und Therapie der komplexen psychischen Folgen von Gewalt und Missbrauch bedürfen einer psychiatrisch-psychotherapeutischen und/oder psychologischen Expertise sowie eines interdisziplinären Vorgehens. Im Hinblick auf die Therapie von Traumafolgestörungen und anderen psychischen Problemen und Erkrankungen bei Athleten kommt der Früherkennung möglicher traumatischer Vorerfahrungen und traumabedingter Symptome eine entscheidende Bedeutung zu.
Mögliche frühere traumatische Erfahrungen sollten anamnestisch erhoben werden, wozu eine traumaspezifische Expertise nötig ist. Darüber hinaus müssen präventive Massnahmen, namentlich im Hochleistungssport, entwickelt und umgesetzt werden. Um Gewalt und Missbrauch möglichst früh zu erkennen, scheint der Einsatz von standardisierten Screening-Tools unabdingbar.
Wie bei der Diagnostik, der Therapie und der Nachsorge bedarf es auch bei der Prävention einer spezifischen klinischen Expertise und Qualifikation. Dabei sollte den oben erwähnten Risikogruppen besonders Beachtung geschenkt werden.
Die Entwicklung und die Umsetzung präventiver Konzepte kann zudem nur dann erfolgreich sein, wenn ein systematischer, einrichtungsübergreifender Ansatz verfolgt wird und Athleten, ihr Umfeld, medizinische und therapeutische Behandler, Ausbildner, Verbände und Vereine sowie Strafjustizbehörden miteinbezogen werden.
Als Grundlage hierfür kann der Konsensus des Internationalen Olympischen Komitees dienen, der Massnahmen auf den Ebenen der Sportorganisationen, der Athleten, der Sportmedizin und der verwandten Fachgebiete sowie der Forschung vorsieht. In der Schweiz sollten überdies die Ethik-Charta von Swiss Olympic und der Verhaltenskodex für Trainer als verbindliche Regelwerke gelten.
Gemäss dem «International Olympic Committee consensus statement: harassment and abuse (non-accidental violence) in sport» haben alle Athleten das Recht auf die sichere Ausübung ihrer Sportart und ein Umfeld im Sport, das respektvoll, gerecht und frei von jeglicher Form von Gewalt ist.
In zahlreichen Sportorganisationen wird diese Thematik jedoch ignoriert, und zwar aus ganz unterschiedlichen Gründen, etwa aus Angst vor Reputationsschäden, wegen einer generellen Schweigekultur oder gezielter Vertuschung.
Alle Formen von Belästigung und Missbrauch verletzen die Menschenrechte und die Menschenwürde und können eine Straftat darstellen. Daher besteht für Sportorganisationen und ihre Mitarbeiter eine rechtliche und moralische Sorgfaltspflicht, die sicherstellen soll, dass das Risiko von Gewalt und Missbrauch erkannt und gemindert wird.
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