Als ich die ersten Texte für eine Lokalzeitung schrieb, staunte ich, wie leicht es war, in diesem Beruf Geld zu verdienen. Ich besuchte irgendeine Veranstaltung in der Provinz, hörte zu, stellte ein paar Fragen und schrieb auf, was ich gesehen hatte. Dafür gabs 150 Franken. Und ich glaubte mit grösster jugendlicher Aufrichtigkeit: In diesem Job wirst du irgendwann reich.
Dann bekam ich meine erste Stelle im Journalismus. Ich arbeitete wie ein Verrückter bis zum wöchentlichen Redaktionsschluss, brach zusammen, ruhte mich einen Tag lang in Sitzungen aus und arbeitete daraufhin wieder wie ein Verrückter bis zum nächsten Redaktionsschluss. Dafür gabs Ende Monat knappe 3000 Franken ausbezahlt (also netto für angebliche 80 Prozent). Und ich merkte: In diesem Job wirst du niemals reich.
Zu meiner eigenen Überraschung war mir das völlig egal. Denn ich hatte alles, was ich brauchte (Liebe, Freunde, Zigaretten); und brauchte nicht mehr, weil ich nichts hatte (keine Kinder, kein Auto, keine Züri-overpriced Wohnung). Rein formell zählte ich mit diesem Einkommen gerade noch zur Mittelschicht. Aber es war klar, dass ich nicht Mitte war, sondern drunter.
Das Paradox des Reichtums
Ich lernte: Reich - das sind immer nur die anderen. Nur: Die anderen denken das auch. Cate Blanchett zum Beispiel, die 95 Millionen Dollar schwere Schauspielerin, sagte kürzlich in Cannes: «Ich bin weiss, ich bin privilegiert, ich bin Mittelklasse.» Sie erntete dafür Spott und Hohn (obwohl sie es gut meinte).
Oder der deutsche Politiker Friedrich Merz, Einkommensmillionär und Besitzer von zwei Privatflugzeugen. Er sagte 2018, er sei «gehobene Mittelschicht». Oder der Bundeskanzler Olaf Scholz, der schon, als er noch Minister war, ein Haushaltseinkommen von mehr als 30’000 Euro im Monat hatte. Er sagte einst (mit Seitenhieb gegen Merz): «Als reich würde ich mich nicht empfinden.»
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Selbst Christoph Blocher denkt, reich sei nur, wer nach Monaco zieht. Darum zählt auch er sich «zum Mittelstand», obwohl er und seine Familie über ein Vermögen von mehr als 14 Milliarden Franken verfügen. Blanchett, Merz, Scholz, Blocher - das sind keine Ausnahmen. Sie befinden sich mit ihrer phänomenalen (oder zumindest phänomenal vorgespielten) Fehleinschätzung in guter Gesellschaft.
Fehleinschätzungen des Reichtums
In den USA glauben rund 90 Prozent der Amerikaner, sie gehörten zur Mittelschicht. In Kanada glauben das mehr als zwei Drittel der Bevölkerung. Und auch in Deutschland schätzen sich die Menschen im Reichtumsranking häufig falsch ein.
In einer Studie der Universität Konstanz von 2023 wurden über 6000 Menschen gebeten, anzugeben, wo sie sich auf einer zehnsprossigen Leiter sehen - sowohl beim Vermögen wie auch beim Einkommen. Die Einschätzungen lagen stark daneben, vor allem bei den höchsten und den tiefsten Einkommen. Ganz oben war die Verzerrung nach unten besonders stark.
Sechs von sieben der Reichsten schätzten sich deutlich tiefer ein, als sie eigentlich sind. So stuften sich die Reichsten auf der Leiter um bis zu dreieinhalb Sprossen zu tief ein. Die Ärmsten hingegen stuften sich nur um rund eineinhalb Sprossen zu hoch ein. Reiche unterschätzen ihren Reichtum, Arme ihre Armut.
Es ist paradox: Fast alle wollen reich sein. Sind sie es aber tatsächlich, wollen sie es nicht zugeben. Sie wären lieber «normal». Sie wären lieber «Mittelschicht». Einige vermuten dahinter Scham, zumindest für Deutschland. (Die Schweizerinnen kennen dafür ein vornehmeres Wort: Sie nennen es Diskretion.)
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Die Vermögen schätzten die Befragten übrigens nicht viel anders ein als die Einkommen. Obwohl die Ungleichheit dort in Wirklichkeit noch viel grösser ist. Diese Fehleinschätzungen haben Folgen: Denn für die politische Meinungsbildung - das ist recht gut erforscht - sind weniger die objektiven Fakten entscheidend, sondern vielmehr die subjektiven Wahrnehmungen.
Die Befragten der Konstanzer Studie erkannten die Ungleichheit als Problem, aber unterschätzten, wie gross es tatsächlich ist. Das, sagte ein Studienleiter, könne sich auch in den politischen Entscheidungen niederschlagen: «Diese Menschen wählen dann gegen ihr Interesse.» Zum Beispiel, wenn es um höhere Steuern für Vermögende geht.
Eine andere Studie aus Deutschland von 2022 zum Gerechtigkeitsempfinden kam übrigens zu recht ähnlichen Befunden. Fast zwei Drittel der Befragten sagten ausserdem, Reichtum hänge von Glück ab. Oder vom Elternhaus. Nur wenn sie selbst reich waren, dann glaubten die Befragten - Überraschung! -, dass ihr persönlicher Wohlstand auf «harte Arbeit» zurückgehe. (Was übrigens totaler Blödsinn ist: Mit «harter Arbeit» allein werden Sie ganz sicher nie reich.)
Die Sehnsucht nach der Mittelschicht
Nur wenig ist also so beliebt (und übrigens auch politisch umworben) wie die Mittelschicht. Aber was ist das überhaupt? Und warum wollen alle zu ihr gehören? Multimilliardär Christoph Blocher, dessen Partei sich wie keine andere auf den «Mittelstand» beruft, definierte diese Schicht so: «Wer zu wenig arm ist, um auf staatliche Unterstützung zählen zu können, aber nicht so reich, dass er nach Monaco zügeln muss.»
In der Schweiz zählt heute zur Mittelschicht, wer zwischen 70 und 150 Prozent des Medianlohns verdient, also zwischen 4000 und 8500 Franken (brutto, alleinstehend ohne Kinder), beziehungsweise zwischen 8300 und 17’900 Franken (als Paar mit zwei Kindern). In Deutschland sind es zwischen 1050 und 4400 Euro (netto), beziehungsweise 2220 Euro bis 9230 Euro für Paare mit zwei Kindern. Und zur globalen Mittelschicht zählt eine vierköpfige Familie, wenn sie von 10 bis 20 Dollar pro Tag lebt, also im Jahr zwischen 14’600 und 29’200 Dollar verdient.
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Diese Auflistung zeigt schon, dass das Einkommen zwar die beliebteste und am weitesten verbreitete Messgrösse für die Mittelschicht ist, aber eben nur eine bedingt sinnvolle: Das Leben mit 4000 Franken in der Stadt Zürich ist ein völlig anderes als eines mit 8000 in Biel, Delémont oder Frauenfeld (hallo Miete!). Der Ökonom Paul Krugman schrieb denn auch, wenn wir von der Mittelschicht sprächen - beziehungsweise von der middle class -, dann hätten wir zwei Dinge im Kopf: Sicherheit und Möglichkeiten.
Andere Mittelschichts-Berechnungen beziehen das Vermögen mit ein (nicht viel besser), den Konsum (besser). Oder stützen sich auf ganz andere Kategorien wie Erwartungshaltungen oder die Verwirklichung von Lebensentwürfen. In den USA beispielsweise zählen zu solchen aspirations etwa: ein Haus, ein Auto, die Möglichkeit für Familienferien, Gesundheitssicherheit, Rente, College für die Kinder.
Die sogenannte Mittelschichtsgesellschaft begann ihren Siegeszug Anfang des 20. Jahrhunderts, als die mittleren Einkommensschichten sich verbreiterten in Europa und in vielen westlichen Industrieländern. Zwischen den 1950er- und 1970er-Jahren erreichte die Mittelschichtsgesellschaft ihr goldenes Zeitalter. Der Lebensstandard verbesserte sich schnell, stark - und für sehr viele. Fast alle konnten sich mehr leisten: Waschmaschine, Fernseher, Auto, Sommerferien.
Die Einkommenspyramide wurde zu einer Einkommenszwiebel, mit fettem Bauch in der Mitte. Der Lebensstandard der Mittelschicht war für die allermeisten in greifbarer Nähe. Man musste sich bloss anstrengen und anpassen. Dieses Modell geriet in den 1970er-Jahren zwar in eine Krise - ökonomisch, aber auch kulturell. Die Meritokratie entpuppte sich als Mythos. Es entstanden neue Mittelschichten, neue Aufsteiger, neue Absteiger. Die grosse Strahlkraft der Mittelschicht aber blieb. Wir empfinden sie als ökonomisch sinnvoll, politisch stabil und gesellschaftlich mehr oder weniger gerecht. Dass so viele Menschen sich dieser Mittelschicht zugehörig fühlen, ist nicht unbedingt der Wirklichkeit geschuldet, sondern auch einer Wunschvorstellung.
Reich sind in dieser Wunschvorstellung immer nur die anderen. Reich sein heisst deshalb oft: reicher als ich.
Apropos: Mein heutiger Arbeitgeber zahlt doppelt so viel wie mein erster (6200 netto auf 80 Prozent, die sich manchmal tatsächlich wie 80 anfühlen). Mit diesem Einkommen zähle ich gerade noch zur Mittelschicht.
Die Bedeutung von Freude und Nächstenliebe
Das Gleichnis von den Talenten ist keine Anleitung für Investmentbanker. Es geht um das, was Albert Schweitzer wie folgt auf den Punkt brachte: Glück verdoppelt sich, wenn man es teilt. Auch Liebe verdoppelt sich, wenn man sie teilt.
Der Arzt und Theologe Albert Schweitzer meinte einmal: Glück verdoppelt sich, wenn man es teilt. Auch Liebe verdoppelt sich, wenn man sie teilt - gerade wie im Gleichnis, wo sich die investierten Talente verdoppeln.
Ich bin dann reich, wenn mehr Geld nichts an meinem Leben ändern würde. Auf einmal wird mir bewusst, das wahrer Reichtum überraschend wenig mit Zahlen zu tun. Und vielmehr mit Klarheit. Mit Präsenz.
Gott talentiert mich mit der Gabe zur Nächstenliebe!
Ich habe ein gemütliches Bett zum schlafen, habe mehr als genug zu Essen, habe gesundes Wasser zu trinken. Habe die Freiheit nach draussen zu gehen und mir die Welt ankucken, mich in ein kleines Abendteuer stürzen und trotzdem mich sicher und geborgen fühlen.
Tabelle: Einkommensgrenzen der Mittelschicht in verschiedenen Ländern
| Land | Einkommensgrenzen | Bemerkungen | 
|---|---|---|
| Schweiz | 4000 - 8500 Franken (Brutto, alleinstehend) | 70-150% des Medianlohns | 
| Deutschland | 1050 - 4400 Euro (Netto, alleinstehend) | |
| Global | 14'600 - 29'200 Dollar pro Jahr (Familie) | 10-20 Dollar pro Tag |