Neurotische Romanfiguren bei Philip Roth

Meist ist es der Skandalroman Portnoy’s Complaint (1969), über den Philip Roths Verhältnis zur Psychoanalyse diskutiert wird, doch die Frage der Privatheit der therapeutischen Beziehung wird am intensivsten in seinem späteren Roman My Life as a Man (1974) verhandelt.

Der erste Teil dieses komplexen Versuches, Lebensgeschichte darstellbar zu machen und zugleich zu entstellen, enthält zwei Erzählungen, in denen der Schriftsteller Peter Tarnopol versucht, seine biographischen Erfahrungen fiktional zu verarbeiten. Da sich diese „useful fiction[s]“ als gescheitert erweisen, lässt er ihnen die autobiographische Erzählung des zweiten Teils, My True Story, folgen.

Das vierte Kapitel dieser Erzählung widmet sich der Psychoanalyse, der sich Tarnopol unterzieht, um seine traumatische Ehe zu verarbeiten. Dieses Kapitel enthält damit aber nicht nur einen weiteren Versuch, Lebensgeschichte erzählbar zu machen, sondern sogar zwei, denn der Psychoanalytiker Dr. Otto Spielvogel verarbeitet Tarnopols Fall in einem wissenschaftlichen Artikel und verletzt damit die Privatsphäre seines Patienten.

Die Neurosen zeigen einerseits auffällige und tiefreichende Übereinstimmungen mit den großen sozialen Produktionen der Kunst, der Religion und der Philosophie, anderseits erscheinen sie wie Verzerrungen derselben. Man könnte den Ausspruch wagen, eine Hysterie sei ein Zerrbild einer Kunstschöpfung, eine Zwangsneurose ein Zerrbild einer Religion, ein paranoischer Wahn ein Zerrbild eines philosophischen Systems.

Neurosen sind Freud zufolge private, das heißt der Gesellschaft entzogene Versuche, quasi-künstlerische, quasi-religiöse und quasi-philosophische Arbeit zu leisten. Nun ist die Psychoanalyse aber gerade mit der Behandlung und der Erforschung dieser absolut privaten Zerrbilder von Kunst, Religion und Philosophie beschäftigt; sie muss also einen Weg finden, in diese Privatheit einzudringen.

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Doch ihr Verhältnis zum Privaten bleibt äußerst zwiespältig. Einerseits kann die Psychoanalyse Zugang zur verborgenen neurotischen ‚Arbeit‘ des Patienten nur erhalten, wenn dieser alles, auch das Privateste, in der Analyse von sich preisgibt. Andererseits funktioniert diese Selbstoffenbarung nur, wenn sie zugleich von der Zusicherung absoluter Privatheit innerhalb der therapeutischen Dyade begleitet wird, wenn der Patient darauf vertrauen kann, dass nichts von dem, was zwischen ihm und dem Analytiker geschieht, nach außen dringen wird.

Dass diese Konstellation für Künstler reizvoll erscheint, erklärt sich nicht nur aus den ethischen Verwerfungen, welche die Schweigepflicht im therapeutischen Kontext immer wieder erzeugt, sondern auch aus der ästhetischen Spannung, die daraus notwendig folgt: Berichten Patienten und Therapeuten aus der Therapie, und sei dies auch in fiktiver Form, stellen sie etwas aus, das niemals hätte ausgestellt werden dürfen und das gerade deshalb umso mehr die Neugier Außenstehender weckt.

Und schließlich ist das, was in der Therapie verhandelt wird, zumindest nach Freud auch ein Werk - mit Kunst, Religion und Philosophie vergleichbar, insofern Neurosen Phantasiegehalte zur Darstellung bringen, Rituale erschaffen und komplexe Weltanschauungen produzieren können.

In der Fernsehserie In Treatment (2008-2010) erfährt der Psychotherapeut Paul Weston ebenfalls, was es bedeutet, wenn ein Analytiker privates Material aus der Analyse in die Öffentlichkeit trägt. Die HBO-Serie, die auf der israelischen Produktion Be’Tipul (2005-2008) basiert, spielt fast ausschließlich in Dr. Westons Praxis und zeigt an jedem Wochentag die Therapiesitzung eines anderen Patienten.

Dieser Versuch, die Arbeit und den Terminkalender des Analytikers für die Zuschauer genau abzubilden, bezieht seinen Reiz unter anderem daraus, dass in diesen fokussierten Sitzungen ein Einblick in den ansonsten abgeschlossenen Raum zwischen Therapeut und Patient gewährt wird - und doch die Privatsphäre der Patienten und des Analytikers auf frustrierende Weise gewahrt bleibt, da die Serie einen Zugriff auf deren Privatleben strategisch limitiert.

Dies wird durch die Erfahrungen des Therapeuten ergänzt, der in der dritten Staffel mit den moralischen Schwierigkeiten der Schweigepflicht und zugleich mit der Verletzung seines Rechts auf Privatheit durch seine Analytikerin kämpft.

Dass die Psychoanalyse eigentlich die Preisgabe von Privatheit voraussetzt, wird paradoxerweise in einem Kommentar Freuds deutlich, in dem er sich bei der Deutung eines eigenen Traums trotz weitreichender Auskünfte über seine intimsten Wünsche und Beweggründe an einem Punkt doch weigert, weiteres inneres Material preiszugeben: „Rücksichten nicht wissenschaftlicher, sondern privater Natur hindern mich, diese Arbeit öffentlich zu tun."

Will die Psychoanalyse den privaten Kern des Individuums analytisch erreichen, muss sie diese Entzogenheit überwinden, und der Königsweg dazu ist passenderweise nicht der Traum selbst, sondern die Versprachlichung solcher inneren Erfahrungen. Sie werden beobachten, daß Ihnen während Ihrer Erzählung verschiedene Gedanken kommen, welche Sie mit gewissen kritischen Einwendungen zurückweisen möchten. […] Geben Sie dieser Kritik niemals nach und sagen Sie es trotzdem, ja gerade darum, weil Sie eine Abneigung dagegen verspüren.

Damit entsteht ein extremer Anspruch an die Selbstoffenbarung des Patienten, der Widerstand aufruft. Man trifft kaum auf einen Kranken, der nicht den Versuch machte, irgendein Gebiet für sich zu reservieren, um der Kur den Zutritt zu demselben zu verwehren. So viel Verständnis Freud für dieses Bedürfnis nach Privatheit aufbringt, so wenig passt es seiner Meinung nach zur psychoanalytischen Behandlung.

Auch heute noch wird dieser Verzicht auf Privatheit in der Psychoanalyse als essenziell betrachtet. Judy Kantrowitz betont: „Finding the necessary ways to confront ourselves requires some sacrifice of privacy.“ Gelegentlich müssten Menschen sich anderen offenbaren, um das zu entdecken, was sie vor sich selbst verborgen hielten.

Zugleich, so ergänzt Kantrowitz jedoch, benötige die Psychoanalyse neben Offenbarung weiterhin ein gewisses Maß an Privatsphäre. Aus diesem Grund hat sich Thomas Ogden gegen eine zu rigide Auslegung der Grundregel ausgesprochen. Seiner Ansicht nach wird der psychoanalytische Prozess von einer generativen Spannung zwischen Privatheit und Bezogenheit auf einen anderen angetrieben.

Aber auch für die Darstellung von Psychoanalysen in Literatur und Fernsehen ist die Positionierung auf dieser Spanne zwischen Privatheit und Offenbarung von großer Bedeutung. Für Philip Roth schuf der psychoanalytische Rahmen in Portnoy’s Complaint neue Möglichkeiten, seinen literarischen Ausdruck zu erweitern: „In Portnoy’s Complaint I […] utilized the permissive conventions of the patient-analyst situation to get at material that had previously been inaccessible to me“.

In diesem Roman, der ausschließlich aus den Geständnissen Alexander Portnoys vor seinem Psychoanalytiker besteht, dient die psychoanalytische Grundregel als Basis für Roths Schreibstrategie: Sie erlaubt ihm, auch das Privateste seiner Figur offenzulegen und sie damit vollständig zu einer literarischen Analyse zur Verfügung zu halten.

Wenn Roth am Ende seiner langen Schriftstellerkarriere zu seinen zentralen Maximen zählt, dass sich Schriftsteller Scham nicht leisten können, so scheint diese Erkenntnis am Anfang seines Erfolgs in der Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse herangereift zu sein. Auch Tarnopol in My Life as a Man beschreibt die Überwindung hin zur Selbstoffenbarung in der Analyse als eine Auseinandersetzung mit Scham:

Ziel der Analyse, so könnte man vermuten, ist es somit aber auch, etwas Privates zu veräußern, um es nicht länger allein tragen zu müssen und die eigene Auseinandersetzung mit schwierigem Material möglich zu machen. In Treatment lebt als Serie ebenfalls davon, dass die intimsten Details der Patienten im Rahmen der dargestellten Therapiesitzungen ausgestellt werden.

Pauls Supervisorin Gina beschreibt ihr Sprechzimmer als „safe zone“, in der alles besprochen werden kann: „Whatever you tell me, I’m here for you. I won’t abandon you, no matter what.“ Tatsächlich kann Paul mit ihr über seine geheimsten Wünsche sprechen, ebenso wie er sich für die Geschichten seiner eigenen Patienten öffnet.

In Treatment verzichtet vollständig auf Szenen, die in anderen Serien, die sich mit Psychotherapie auseinandersetzen, üblich sind: Sie verfolgt Patienten nicht nach Hause, sie zeigt uns den Therapeuten nicht bei therapeutischer Detektivarbeit außerhalb des analytischen Settings und sie verwendet nicht einmal Flashbacks oder Fantasiesequenzen, um die Vergangenheit und das Innenleben der Analysanden sichtbar zu machen.

Ein Format, das sich so sehr auf das intime Gespräch zwischen zwei Figuren beschränkt, bezieht seinen Reiz nun aber gerade aus dem Eindringen in Intimität. Gabriel Byrne, der Paul Weston spielt, erklärt auf die Frage, warum Zuschauer von der Serie begeistert seien: „Because it provides a voyeuristic experience for the audience.“

Der Privatraum der Analyse wird hier also mit den Zuschauern um eine dritte Instanz erweitert. Diese sind aber wie der Analytiker zugleich von einer strategischen Limitierung betroffen. Der Verzicht auf die Darstellung der Patientenleben außerhalb der Analyse bedeutet, dass In Treatment nur diejenigen Dinge aus der Privatsphäre der Patienten offenbart, welche sie selbst gegenüber ihrem Therapeuten enthüllen wollen.

Die Serie gestattet den Patienten damit einen nicht nur für die Zuschauer manchmal durchaus frustrierenden privaten Raum. Auch für Paul ist dieser mangelnde Zugriff teilweise kaum auszuhalten. So bedauert er, dass er die Familienmitglieder seiner Patienten niemals wirklich kennenlernt: „The participants in the stories that you’ve heard dozens of times. […] We think we know them, but we don’t really know them at all. We know reactions to them, or versions of them.“

Erhellend ist dabei der Vergleich mit der Netflix-Serie Gypsy (2017), in der die Therapeutin Jean Holloway heimlich Kontakt zu Liebhabern und Familienmitgliedern ihrer Patienten aufnimmt, um ihre Neugier und ihre Sehnsucht nach Intensität zu befriedigen. Damit erlaubt diese neuere Serie ihren Zuschauern ein doppelt potenziertes voyeuristisches Erlebnis sowie eine allwissende Übersicht über die intimsten Erlebnisse aller beteiligten Figuren.

Ein Recht auf und ein Bedürfnis nach Privatheit hat in der psychoanalytischen Dyade aber nicht nur der Patient, sondern auch der Analytiker. Zur Abstinenz, die Freud dem Therapeuten verschreibt, gehört seine Anonymität. Selbst ohne moderne Informationskanäle wie das Internet konnten Analytiker aber nie ganz verhindern, dass Patienten Informationen über sie einholen und in ihre Privatsphäre einzudringen suchen.

Einige analytische Schulen plädieren deshalb dafür, das Anonymitätsgebot aufzugeben und mit dem Patienten frei Informationen auszutauschen. Allerdings macht die künstliche Privatheit, die Freud fordert, bestimmte Erfahrungen überhaupt erst möglich. Bleibt der Analytiker anonym, steht er nicht nur für sich selbst, sondern kann alle möglichen Figuren aus dem Leben des Patienten reflektieren.

Überraschenderweise dient auch das bekannteste Emblem der Psychoanalyse, die Couch, der Aufrechterhaltung der Privatsphäre des Analytikers. Ich vertrage es nicht, acht Stunden täglich (oder länger) von anderen angestarrt zu werden. Da ich mich während des Zuhörens selbst dem Ablauf meiner unbewußten Gedanken überlasse, will ich nicht, daß meine Mienen dem Patienten Stoff zu Deutungen geben oder ihn in seinen Mitteilungen beeinflussen.

Freud betont hier nicht nur, dass die Zurückgezogenheit des Analytikers einen Entzug für den Patienten bedeutet, sondern auch, dass dieser Gewinn an Privatsphäre eine bestimmte Form des Denkens erlaubt. Die Privatheit des Analytikers dient also nicht allein dessen Schutz, sondern sie erzeugt - sowohl als Anonymität wie als Zurückgezogenheit verstanden - die analytischen Bedingungen, unter denen die besondere psychoanalytische Kommunikation gedeihen kann, weil sie private Räume und Projektionsflächen erzeugt, die nicht bereits durch ein Übermaß an biographischen und sensorischen Informationen überschrieben sind.

Philip Roth lässt Tarnopols Therapeuten Dr. Otto Spielvogel drei Mal in seinem Werk auftreten. In der Kurzgeschichte The Psychoanalytic Special (1963) und dem Roman Portnoy’s Complaint bleibt der Analytiker trotz der Neugier der Patienten an seiner Person ihrem und sogar dem Zugriff der Leser entzogen.

In keinem der beiden Texte erfahren sie private Details über Spielvogels Leben. Erst in My Life as a Man erhält der Therapeut ein Gesicht und eine eigene Geschichte. Anders als zuvor wird Spielvogel plötzlich körperlich lesbar und dies hat insbesondere für Leser von Portnoy’s Complaint einen gewissen Reiz, können sie hier doch erfahren, ob der zuvor nahezu unsichtbare Analytiker ihren Vorstellungen entspricht.

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