Die Bulimie (Bulimia nervosa) zählt zu den Essstörungen und wird umgangssprachlich auch als Ess-Brech-Sucht bezeichnet. Die Bulimie ist eine ernst zu nehmende psychische Störung. Trotz der erheblichen Scham und des Leidensdrucks, die mit der Erkrankung einhergehen, stehen sie einer Therapie meist zwiespältig gegenüber: Sie wollen einerseits die Kontrolle über das Essverhalten zurückerlangen, andererseits haben sie Angst, zuzunehmen. Daher ist professionelle Hilfe bei Bulimie unverzichtbar.
Was ist Bulimie?
Typische Bulimie-Symptome sind Heisshungerattacken, bei denen die Betroffenen unkontrolliert grosse Mengen an Nahrung verzehren. Um nicht zuzunehmen, ergreifen sie anschliessend drastische Gegenmassnahmen wie selbst herbeigeführtes Erbrechen, Missbrauch von Abführmitteln oder sie treiben exzessiv Sport. Häufig ist eine Diät der Einstieg in die Ess-Brech-Sucht.
Psychische Hintergründe
Menschen mit Bulimie streben eine Figur an, die dem herrschenden, überschlanken Schönheitsideal entspricht. Dadurch erhoffen sie sich Anerkennung und Zuneigung. Zuzunehmen erscheint ihnen bedrohlich, da sie sich vor Ausgrenzung fürchten. Aber auch für die Regulation negativer Emotionen kann ein Essanfall ein Ventil bedeuten.
Diagnose von Bulimie
Besteht der Verdacht auf eine Bulimie, ist es sinnvoll, zunächst in der Hausarztpraxis vorzusprechen. Der erste Schritt für die Diagnose ist dann ein ärztliches Anamnesegespräch.Folgende Fragen könnte der Arzt der Patientin oder dem Patienten bei Verdacht auf Bulimie stellen:
- Fühlen Sie sich zu dick?
 - Sind Sie zufrieden mit Ihrem Körper?
 - Achten Sie sehr darauf, wie viel und was Sie essen?
 - Haben Sie Heisshungerattacken, bei denen Sie mit dem Essen gar nicht mehr aufhören können?
 - Kommt es vor, dass Sie die aufgenommene Nahrung wieder erbrechen? Wie häufig ist das?
 - Haben Sie körperliche Beschwerden wie zum Beispiel Muskelschwäche, Verstopfung, starke Bauchschmerzen?
 
Die Diagnose ist nicht einfach, da die Betroffenen einer Verhaltensänderung meist zwiespältig gegenüberstehen. Einerseits schämen sie sich für die Essanfälle und wünschen sich, die Kontrolle über ihr Essverhalten zurückzuerlangen. Andererseits fürchten sie, Gewicht zuzunehmen, wenn sie auf gegensteuernde Massnahmen verzichten. Manche glauben fälschlicherweise, das krankhafte Verhalten selbst in den Griff zu bekommen.
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Es ist für den Patienten und den Arzt oder die Ärztin gleichermassen eine grosse Herausforderung, ein so grosses Vertrauen aufzubauen, dass die Betroffenen sich öffnen können und sich helfen lassen.
Psychologische Diagnostik
Erhärtet sich der Verdacht, wird die weitere Diagnostik von einer psychotherapeutischen Fachkraft durchgeführt. Da die Bulimie überwiegend psychische Ursachen hat, ist eine Behandlung der körperlichen Beschwerden nicht ausreichend. Der Psychotherapeut kann mithilfe eines klinischen Interviews die spezifischen psychischen Beschwerden erfassen. Er kann zudem bestimmen, ob der Patient an weiteren Störungen leidet. Menschen mit Bulimie leiden häufig auch an Depression, Angststörungen oder Persönlichkeitsstörungen.
Diagnosekriterien der Bulimie
Nach dem Diagnostischen und Statistischen Manual Psychischer Störungen (DSM-V) gelten folgende Merkmale als Bulimie-Anzeichen:
- wiederholte Episoden von Fressattacken
 - wiederholte Anwendung von unangemessenen, einer Gewichtszunahme gegensteuernden Massnahmen
 - Essattacken und unangemessenes Kompensationsverhalten treten mindestens drei Monate lang mindestens einmal pro Woche auf.
 - Figur und Körpergewicht haben einen übermässigen Einfluss auf die Selbstbewertung.
 - Symptome treten nicht ausschliesslich im Zusammenhang mit einer Magersucht auf.
 
Zur Erfassung der Diagnosekriterien hat man einen speziellen Fragebogen entwickelt: das Strukturierte Interview für Anorexie und Bulimie (SIAB). Dafür gibt es zwei Varianten:
- eine Fragebogenversion zur Selbsteinschätzung mit 87 Items (SIAB-S)
 - ein Experteninterview mit 85 Fragen, die die Ärztin oder der Psychologe gemeinsam mit der Patientin oder dem Patienten durchgeht (SIAB-EX).
 
Sie umfassen neben den Symptomen einer Essstörung auch Anzeichen anderer psychischer Erkrankungen, wie Ängste und Depressionen, sowie Störungen der sozialen Kompetenz, die oft gemeinsam mit einer Bulimie auftreten.
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Körperliche Untersuchung
Neben der psychologischen Diagnostik ist auch eine körperliche Untersuchung notwendig. Der Arzt untersucht auch das Blut, das aufgrund des Erbrechens oft arm an lebenswichtigen Salzen ist. Weiter prüft er, ob Magen, Speiseröhre und Zähne verletzt oder durch Magensäure angegriffen sind. Zeigen sich durch den Mangel an Salzen bereits Nierenschäden oder Herzrhythmusstörungen, testet der Arzt die Funktion dieser Organe über EKG, Herzecho und einen Ultraschall der Nieren.
Bulimie-Test
Im Internet gibt es eine ganze Reihe von Online-Angeboten zum Bulimie-Test. Solche Tests orientieren sich an den Fragen, die auch ein Arzt stellen würde, etwazu den Essattacken, zu Essverhalten und Diäten, zur Einstellung zum eigenen Körper, zum Selbstwertgefühl, zu selbst herbeigeführtem Erbrechen, Abführmittelkonsum und Sportexzessen. Eine sichere Diagnose für Bulimie kann zwar nur ein Experte stellen, die Onlinetests bieten jedoch eine Orientierungshilfe. So kann ein Bulimie-Test im Internet den Betroffenen dazu anregen, sich über sein Essverhalten Gedanken zu machen und sich gegebenenfalls Hilfe zu suchen.
Behandlung von Bulimie
Ziele bei der Behandlung von Bulimie sind vor allem:
- Kurzfristig eine rasche Veränderung des Essverhaltens zu erreichen, um die körperliche Gesundheit wiederherzustellen oder zu erhalten.
 - Langfristig den Betroffenen zu helfen, die Ursachen für das gestörte Essverhalten zu erkennen und diese zu beseitigen oder andere Wege zu finden, damit umzugehen.
 
Normalisierung des Essverhaltens
In leichteren Fällen ist eine Bulimie auch ambulant behandelbar. In schweren Fällen muss jedoch die Ernährung kontrolliert werden, damit die Patienten zu einem gesunden Essverhalten zurückfinden können. Das ist in der Regel nur in einem stationären Rahmen möglich.
Vertrauen und Motivation aufbauen
Zu Beginn der Behandlung gilt es vor allem, ein Vertrauensverhältnis zwischen Therapeuten oder Therapeutin und der essgestörten Person aufzubauen. Sie ist die Basis für alle nachfolgenden Schritte.
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Nicht zu viel und ohne Erbrechen
Gemeinsam mit den Betroffenen erstellt man einen ausgewogenen Essensplan. Ziel ist es, regelmässig Mahlzeiten zu sich zu nehmen - mindestens drei am Tag. Es geht darum zu essen, ohne in eine Essattacke zu verfallen oder das Essen zu erbrechen.
Angst vor Kalorien nehmen
Die Patientinnen und Patienten lernen auch kalorienreichere Lebensmittel, die sie ausserhalb der Ess-Brech-Attacken vermieden haben, ohne Angst zu sich zu nehmen. Sie werden auch bei der Zubereitung des Essens eingebunden. Der Umgang mit Lebensmitteln soll für sie zu einer positiven, entspannten Erfahrung werden.
Normalisierter Essdrang
Durch die regelmässige und abwechslungsreiche Ernährung wird auch der Drang geringer, sich grosse Nahrungsmengen einzuverleiben.
Psychotherapie
Häufig wird eine kognitive Verhaltenstherapie zur Behandlung von Bulimie eingesetzt.
- Realistisches Körperbild: Die Patienten sollen eine realistische Einstellung zu ihrem Körper und ihrem Gewicht entwickeln. Dabei geht es auch darum, die gesellschaftlichen Idealvorstellungen von Schönheit und Schlankheit zu hinterfragen.
 - Auslöser suchen: In Zusammenarbeit mit dem Therapeuten ergründen die Bulimie-Patienten, welche Situationen einen Ess-Brech-Anfall hervorrufen. Dabei kann ein Ernährungstagebuch helfen. Daraufhin versucht der Therapeut zusammen mit dem Patienten alternative Wege und Verhaltensweisen zu finden, um mit belastenden Situationen umzugehen.
 - Konfrontationstherapie: In der Bulimie-Therapie wird häufig mit sogenannten Konfrontationen gearbeitet. Dabei setzen sich die Betroffenen in therapeutischer Begleitung angstauslösenden Situationen oder Reizen aus. Konkret werden ihnen beispielsweise Lebensmittel vorgelegt, die sonst eine Essattacke ausgelöst hätten. Sie dürfen sie anfassen und beschnuppern, aber nicht verzehren. Die therapeutisch begleitete Auseinandersetzung führt zu einem stetigen Abbau der Ängste.
 
Breites Therapiespektrum
Bei einem stationären Aufenthalt wird in der Regel ein breites Spektrum an Therapien zur ganzheitlichen Behandlung genutzt. Dazu gehören:
- Einzeltherapie
 - Gruppentherapie
 - Gestalttherapie
 - Kunsttherapie
 - Bewegungstherapie
 - Musiktherapie
 - Entspannungskurse
 - Ernährungsberatung
 
Medikamentöse Behandlung
Zu Beginn der Bulimie-Therapie und in Krisen erhalten manche Patienten vorübergehend antidepressive Substanzen. Vor allem wird hierzu das Medikament Fluoxetin eingesetzt. Es hat nicht nur eine antidepressive Wirkung, sondern reduziert auch die Ess-Brech-Anfälle. Als alleinige Therapie bei Bulimie sind Medikamente nicht geeignet.
Krankheitsverlauf und Prognose
Die Bulimie beginnt meistens in der Jugend oder im frühen Erwachsenenalter. Häufig sind Diäten der Einstieg in die Ess-Brech-Sucht. Der Bulimie kann eine Phase starker Gewichtsabnahme vorausgehen, die dann in Ess-Brech-Anfälle umschlägt. Auch kann sich Bulimie aus einer Magersucht entwickeln. Im Verlauf der Erkrankung gibt es immer wieder auch Zeiten, in denen Bulimie-Betroffene normal essen. Die Anzahl der Ess-Brech-Anfälle schwankt individuell. In belastenden Phasen, in denen die Patienten besonders gestresst sind, treten Ess-Brech-Anfälle gehäuft auf. Oft wird die Bulimie erst nach längerer Krankheitsdauer behandelt. Immerhin wird etwa die Hälfte der Patienten, die an Bulimie litten, gesund, wenn auch meist erst nach mehrjährigem Krankheitsverlauf.
Erfahrungen von Betroffenen
Tamara, eine Betroffene, litt 20 Jahre an Essstörungen. Innerhalb von einigen Monaten fiel Tamaras Gewicht auf 33 Kilogramm. Heute bin ich geheilt und kann das Essen wieder mit Genuss verzehren. Ich habe lange Zeit gebraucht, um zu lernen, dass es unendlich viele Zeichen gab, dass die psychischen Probleme und Sehnsüchte tief in meiner Seele sassen und nicht im Aussen zu stillen waren. Es war ein harter, einsamer und schmerzlicher Weg. Ich habe die Chance genutzt, aus meinem Mangel zurück in die reine Liebe zu finden, um jetzt mein volles Potenzial ausschöpfen zu können. Jeder Mensch kann in schwierige Situationen geraten. Meine Motivation ist, den Menschen aufzuzeigen, wie auch sie aus dem Schmerz in ihrem Leben rauskommen können.
Andrea Ammann, eine weitere Betroffene, berichtet von ihrem 20-jährigen Kampf mit Bulimie. 2004 hat Andrea Ammann zurück ins Leben gefunden und ist glücklicher als je zuvor. Heute hilft sie als Mentorin Menschen mit Bulimie. «Es erfüllt mich, wenn ich Menschen aus diesem Gefängnis befreien kann.»
Unterstützungsangebote
Die Arbeitsgemeinschaft Ess-Störungen AES vereint ehemals Betroffene, Angehörige und Fachleute, die sich gemeinsam dafür einsetzen, Menschen mit Essstörungen und Essproblemen zu unterstützen. Unser Ziel ist es, nicht nur Betroffenen selbst zu helfen, sondern auch ihre Angehörigen und Fachkräfte, die in ihrem Umfeld mit dem Thema Essstörungen konfrontiert sind.
- Persönliches Gespräch: wir führen Gespräche per Telefon, Video-Telefonie oder vor Ort durch.
 - Gesprächsgruppe: Austausch-Abende für Betroffene
 - Online-Gesprächsgruppe: Austausch für Angehörige, Eltern und Bezugspersonen
 
Zentren und Kliniken
Das Zentrum für Essstörungen (ZES) bietet umfassende Abklärungen, Beratungen und Behandlungen an. Je nach Kapazität werden die Behandlungen im Haus oder bei niedergelassenen Kolleginnen oder Kollegen angeboten, welche mit dem ZES eine intensive Zusammenarbeit pflegen. Die Therapien können nach Wunsch der Patienten individuell, mit Einbezug der Angehörigen oder weiteren wichtigen Bezugspersonen stattfinden.
Die Klinik Wysshölzli bietet ebenfalls stationäre Behandlungen für Menschen mit Essstörungen an. Die Abteilung ist ein Ort, an dem Patientinnen und Patienten sich wohl fühlen und neue Erfahrungen sammeln können. Die Behandlung soll ein wichtiger Schritt sein, um aus einer schwierigen Lebenssituation einen Ausweg zu finden.
Forschung und Studien
Die Klinik für Konsiliarpsychiatrie und Psychosomatik des Universitätsspitals Zürich (USZ) führt aktuell eine klinische Studie durch, in der ein neuer Behandlungsansatz für Anorexia Nervosa untersucht wird. Im Fokus steht der Wirkstoff Metreleptin, ein künstlich hergestelltes Hormon, das dem körpereigenen Leptin entspricht. Erste Hinweise deuten darauf hin, dass Metreleptin nicht nur den Appetit, sondern auch psychische Symptome wie depressive Verstimmungen positiv beeinflussen könnte.
Podcasts
Podcasts wie "Süss & Essgestört" und "Pippi & Annika" bieten Betroffenen und Angehörigen Informationen und Unterstützung. In "Süss & Essgestört" sprechen Freundinnen über ihre Erfahrungen mit Essstörungen und das Leben mit all seinen Facetten. "Pippi & Annika" richtet sich an Mamas, die unter Essstörungen leiden oder litten und sich Sorgen um ihre Kinder machen.
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