Selbstverletzendes Verhalten (SVV) ist eine direkte, unmittelbare Schädigung des eigenen Körpers, die nicht lebensbedrohlich ist. Kinder- und Jugendpsychiater Frank Köhnlein therapiert junge Patientinnen und Patienten, die sich selbst schädigen. Herr Köhnlein, Selbstverletzungen bei Jugendlichen nehmen hierzulande zu. Einer von vier Jugendlichen hat Erfahrungen mit Selbstverletzungen. Das ist eine immens grosse Zahl. Man muss dieses Phänomen aber differenziert betrachten. Viele machen das nur ein-, zweimal. Ein Bub oder Mädchen probiert es aus, schneidet sich mit einer Rasierklinge oder verbrennt sich mit einer Zigarette, vielleicht weil die anderen im Freundeskreis das auch machen - und lässt es bald wieder sein, da es ihm beziehungsweise ihr nichts bringt. Etwa ein Viertel von denen, die es ausprobieren, wiederholt es aber immer wieder. Und diese Fälle, die uns Sorgen machen, nehmen zu.
Formen von Selbstverletzung
Es gibt nichts, was es nicht gibt, aber weitaus am häufigsten kommt das Ritzen beziehungsweise Schneiden vor. Viele Jugendliche, die in grosser Not sind, sagen, es tue ihnen gut, wenn Blut fliesse. Sie müssen daher so tief schneiden, bis ausreichend kommt. Das Schneiden mit scharfen Instrumenten - Skalpellen, Japanmessern - kann bis zu Beinahe- Amputationen und anderen Verstümmelungen gehen.
Hautverbrennungen (z.B. Ritzen, Verbrennen, Schlagen)
Ich habe eine jugendliche Patientin, die kratzt sich immer wieder am ganzen Körper, selbst im Gesicht, und fügt sich so unzählige Wunden zu. Sie sagt, sie könne nicht anders handeln, habe aber nicht den Impuls, sich weh zu tun. In diesem Fall hat die Selbstschädigung einen zwanghaften Charakter.
Ab wann spricht man von selbstverletzendem Verhalten?
Im Prinzip verletzt sich jeder Mensch mehr oder weniger selbst. Auch Tätowieren, das Stechen von Ohrlöchern oder das Enthaaren der Beine sind ja selbstschädigende Handlungen. Es muss eine Handlung sein, die - anders als Tätowieren oder Ohrlochstechen - kulturell nicht akzeptiert ist, und es muss eine Schädigung des Körpers stattfinden. Ausserdem dürfen diese Handlungen nicht mit der primären Absicht begangen werden, sich zu töten, sonst ist es eine suizidale Handlung. Korrekterweise müsste man also von nicht-suizidalem selbstverletzendem Verhalten (NSSV) sprechen.
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Intrapsychische Mechanismen
Die drei Bereiche stellen Verletzungen (Traumas) dar. Den Körper aktiv verlassen um die Demütigung nicht mehr spüren zu müssen.
Wir kennen zwei Motivlagen: Die eine ist die intrapsychische, die andere die interpersonelle. Bei der intrapsychischen Motivlage geht es vor allem darum, Emotionen zu regulieren, also beispielsweise Druck oder Stress abzubauen. Der Schmerz tut mir gut, das fliessende Blut zu sehen, erdet mich. Ich habe mein Leben im Griff. Oder ich will mich mit dem Schmerz selbst bestrafen. Nicht ganz zufällig ist Mobbing eines der Hauptmotive für selbstverletzendes Verhalten. Als Mobbingopfer erfahre ich durch mein Umfeld ständig Verletzungen und Kränkungen. Irgendwann mache ich mir das zu eigen und denke: Ich bin eben ein Versager und habe es nicht anders verdient. In dem Fall dient das Ritzen als Selbstbestrafung.
Bei solchen intrapsychischen Motiven ist das Verhalten in der Regel sehr schambesetzt und die Wunden oder Hämatome werden versteckt. Diese Jugendlichen kommen auch im Sommer mit langen Hosen oder Sweatshirts in die Schule.
Ein klassisches intrapsychisches Motiv.
Interpersonelle Motivlage
Ganz anders bei der interpersonellen Motivlage, bei der ein Jugendlicher durch seine Selbstverletzung seinem Umfeld etwas mitteilen möchte. Eine meiner Patientinnen wurde über einen langen Zeitraum von ihrem Vater sexuell missbraucht. Sie wollte ihm mit ihren Schnitten zeigen: Das hast du mit mir gemacht! Ausserdem nahm sie so Kontakt zu ihrer Mutter auf. Sie wusste, wenn sie mit ihren Schnitten zu ihrer Mutter, einer Ärztin, in die Küche kommt, wird sie fürsorglich verarztet und liebevoll umsorgt - in einem sonst emotional kühlen Elternhaus.
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Eine andere Patientin hat ihre blutverschmierte Bettwäsche in den Wäschekorb gelegt, um auf ihre seelische Not aufmerksam zu machen. Ihre Mutter hat diese wochenlang gewaschen und gebügelt, ohne ihre Tochter darauf anzusprechen. Sie war wohl - so interpretierte das die Jugendliche - schlichtweg überfordert mit der Situation.
Ursachen und Risikofaktoren
Es gibt nichts, was es nicht gibt, aber weitaus am häufigsten kommt das Ritzen beziehungsweise Schneiden vor. Viele Jugendliche, die in grosser Not sind, sagen, es tue ihnen gut, wenn Blut fliesse. Sie müssen daher so tief schneiden, bis ausreichend kommt. Das Schneiden mit scharfen Instrumenten - Skalpellen, Japanmessern - kann bis zu Beinahe- Amputationen und anderen Verstümmelungen gehen.
- Körperliche Gewalterfahrungen: Dem Kind wird ein Machtgefälle demonstriert, Gefühle, Grenzen und Rechte des Kindes missachtet. Negatives Selbstbild: Kind übernimmt Signale der Eltern, dass es schlecht sei. Ich habe Strafe verdient. Gewaltbesetztes Weltbild: Kann Aggressionen nicht gegen Verursacher richten. Bei Jungs gegen aussen, bei Mädchen eher gegen sich selbst.
 - Sexueller Missbrauch: Man geht von einer Häufung sexueller Missbrauchserfahrungen aus. Kind sieht sich als Ursache seiner schlechten Behandlung. Körper wird als schmutzig erlebt. Er musst bestraft werden.
 - Deprivation - Vernachlässigung: Entzug oder Vorenthalten von lebensnotwendigen Objekten oder Reizen, welche sowohl physischer als auch psychisch sein können. Emot. Vernachlässigung: Mangelndes Selbstbewusstsein, Zuwendung nur bei Schmerz, Körper wird als böse Empfunden.
 - Substanzmissbrauch: Kick bring mich aus Leere heraus.
 
Nein, die Ursachen sind keinesfalls immer psychopathologisch. Etwa ein Drittel der Jugendlichen, die sich immer wieder selbst verletzen, sind nicht psychisch krank. Wobei es darauf ankommt, wie man «psychopathologisch» definiert. Da ist ein Spannungszustand, den man nicht aushält, beispielsweise in familiären Stresssituationen. Die Eltern streiten ständig, der Sohn sitzt in seinem Zimmer und hält das Geschrei nicht mehr aus. Gamen hilft ihm nicht mehr, also ritzt er sich. Man könnte natürlich sagen, dass die Selbstverletzung eine Reaktion auf eine akute Belastung ist, aber eine wirkliche psychiatrische Erkrankung, wie eine Persönlichkeits- oder Entwicklungsstörung, eine Zwangserkrankung, Depression oder Angststörung, liegt nur in etwa zwei Dritteln der Fälle vor. Die Ursachen sind eben nicht immer krankhaft. Manche Jugendliche wollen sich beispielsweise einer gewissen Gruppe zugehörig zeigen oder sich von den Eltern abgrenzen: Schaut her, ich bin kein Baby mehr, meine Haut ist nun versehrt. Auch diese Intention entspricht ja keiner psychischen Störung, sondern es ist Teil der Entwicklung, auch wenn die Mittel, die gewählt werden, nicht «normal» sind.
Buben und vor allem Mädchen bewegen sich in diesen Netzwerken und sehen die Bilder oder sogar Videos von sich ritzenden Gleichaltrigen und kommen dadurch vielleicht erst auf die Idee, so etwas auszuprobieren. Ich habe eine Jugendliche einmal gefragt, wie sie auf das Ritzen gekommen sei, ob sie es irgendwo gesehen habe. Sie verneinte meine Frage. Die Idee sei ihr einfach so gekommen. Ich glaube nicht so ganz, dass das stimmte. Für dieses Verhalten braucht es Vorbilder. Und diese sind heute leichter zugänglich.
Statistiken
Etwa ein Drittel der selbstverletzenden Jugendlichen sind männlich. Wobei man vorsichtig sein muss. Buben verletzen sich häufig auf eine Art und Weise, die besser zu verstecken ist. Sie fügen sich beispielsweise eher Prellungen zu und erklären ihren Eltern glaubhaft, sie seien gestürzt. Ich habe auch einige Jungs gesehen, die sich oberhalb der T-Shirt- Armgrenze geritzt haben. Dort, wo es angezogen auch im Sommer nicht zu sehen ist.
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2021 wurden laut Bundesamt für Statistik 3124 Patientinnen und Patienten im Alter von 10 bis 24 Jahren wegen Selbstverletzung oder Suizidversuch hospitalisiert, was gegenüber 2020 einer Zunahme von 26 Prozent entspricht.
Viele Fachleute sehen auch eine Zunahme des gesellschaftlichen Drucks und eine damit einhergehende Verunsicherung. Vor dem Hintergrund der aktuellen Krisen wie der Corona-Pandemie, dem Ukraine-Krieg und der Klimaerwärmung mag das richtig sein. Grundsätzlich wäre ich mit dieser Aussage aber vorsichtig. Jede Generation hatte ihre Herausforderungen und Krisen und musste einen Weg finden, damit umzugehen. Selbstverletzendes Verhalten ist eine andere Umgangsform bei Druck, Belastungen, Traumatisierungen oder Ängsten - all diese Faktoren hat es aber auch schon in der Vergangenheit gegeben.
Umgang mit Selbstverletzung
Nach der Selbstverletzung setzt bei den meisten Jugendlichen schnell ein Gefühl der Angst ein, entdeckt zu werden. Aber irgendwann wollen sie in der Regel, dass es entdeckt wird, um auf ihre Not aufmerksam zu machen - das wäre dann das interpersonelle Motiv. Oder es ist ihnen schlichtweg egal, dass die Wunden zu sehen sind.
Ich würde diese Verletzungen nicht gleich ansprechen, aber beobachten. Sind diese Wunden nach vier bis fünf Tagen abgeheilt? Oder sind sie immer noch frisch oder entstehen sogar neue? Wenn solche Wunden offen gezeigt und nicht versteckt werden, ist das schon eine Botschaft und die Aufforderung: Seht her!
Ganz prinzipiell: So ein Verhalten muss angesprochen werden. Ich würde das physische Symbol, die Wunde oder Narbe, zum Anlass nehmen, meine Sorge auszudrücken: «Du, mir fällt seit ein paar Tagen auf, dass du verletzt bist. Was ist da passiert? Ich würde auch darauf drängen, dass man die Verletzungen dem Kinderarzt zeigt: «Ich könnte mir vorstellen, dass sich die Stelle entzünden kann, und dann sieht es nachher übel aus.
Unbedingt! Aber ohne das Verhalten des Kindes zu beurteilen oder gar zu verurteilen. Es heisst, dass die Tiefe der Wunde mit der Tiefe der Not korreliert. Wenn ein Kind sich oberflächlich ritzt und das nicht öfter als dreimal im Jahr, muss man sich noch keine grossen Sorgen machen. Neuere Klassifikationen sprechen sogar von fünfmal im Jahr. Wenn es häufiger vorkommt beziehungsweise die Schädigungen gravierender werden und sich dieses Verhalten nicht plausibel erklären lässt, sollte der Kinderarzt aufgesucht werden.
Richtig. Eltern sind manchmal viel alarmierter, als sie sein müssten. Und die Kinderärzte sehen, anders als die Eltern, nicht nur ein, zwei oder drei Kinder, sondern dreihundert bis fünfhundert und können besser einschätzen, was der Normalität entspricht. Auch wenn ich als Psychiater von diesem Verhalten nichts halte, empfiehlt es sich für Eltern ein Stück weit, defensiv und «watchful waiting» zu sein, also aufmerksam abwartend zu beobachten. Ich kann als Vater beziehungsweise Mutter ein solches Verhalten in einem gewissen Rahmen zulassen, aber ich lasse es nicht aus dem Fokus.
Das ist natürlich abhängig vom Alter des Kindes, aber grundsätzlich würde ich sagen: Wenn die Verletzung gravierend ist, sowieso. Ansonsten immer dann, wenn ich mir das Verhalten nicht mehr erklären beziehungsweise mich nicht mehr beruhigen kann - oder wenn das Verhalten so stark abweichend ist, dass ich das für mich nicht mehr in den breiten Bereich von «Normalität» einordnen kann, auch wenn das natürlich recht subjektiv ist. Ich vertraue in der Regel sehr auf die intuitive Kompetenz von Eltern, und wenn diese unsicher sind, sollen sie den Kinderarzt fragen.
Selbstverletzung und Suizidrisiko
Was feststeht, ist, dass Selbstschädigungen ein Hauptrisikofaktor für das Suizidverhalten sind. Jene, die sich in der Vergangenheit wiederholt selbst verletzt haben, haben ein bis zu 40-mal höheres Suizidrisiko. Andererseits dient die Selbstverletzung oftmals als Strategie, um sich eben gerade nicht zu töten. Man spricht hier von partieller, das heisst teilweiser Selbsttötung. Die Selbstverletzung ist eine Art schützender Kompromiss, um sich nicht umzubringen. Das geschieht zumindest sehr häufig.
Weil man sich an den Schmerz gewöhnt, er einen nicht mehr in dem Mass entlastet, wie man es sich wünscht, werden die Verletzungen mit der Zeit gravierender. Man nennt dieses Phänomen Toleranzentwicklung.
Weitere Aspekte
- SVV wird zur Sucht
 - Hilfsappell: kann durch Umweltreaktionen verstärkt werden.
 
Reaktionsweisen
- Antidepressivum: Alleinsein verursacht heftige Zustände von innerer Leere und Depression.
 - Antidissoziativum: Die Auflösung des Selbst kann durch SVV beendet werden.
 - Selbstkontrolle: Bei SVV liegt alles in der Hand des Patienten.
 - Angemessene Reaktion: Verletzung ansprechen, keine Ausdrücke von Schreck oder Angst.
 
Ersatzhandlungen
- Lernen seinen Körper besser anzunehmen.
 - Anderen beistehen
 
Buchempfehlung
Kreisman J.K& Straus H. (2005): Zerrissen zwischen den Extremen.
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