Jean Piaget, ein Schweizer Entwicklungspsychologe (1896-1980), gilt als einer der einflussreichsten Forscher auf dem Gebiet der Kinderentwicklung und der kognitiven Entwicklungstheorie. Seine Pädagogik basiert auf der Idee, dass Lernen ein aktiver Prozess ist, der durch Erfahrung und Exploration stattfindet. Seine Theorie besagt, dass Kinder ihre Denkfähigkeiten in bestimmten Stufen durchlaufen, während sie älter werden. Ausserdem postulierte er, dass Kinder ihre Umwelt durch aktive Interaktionen und Erfahrungen mit Objekten und Menschen verstehen und somit ihr Wissen aufbauen.
Piaget studierte Biologie an der Universität Neuenburg und promovierte dort 1918. In seinen Studien beobachtete er Kinder im Alter von wenigen Monaten bis zu Erwachsenen und analysierte ihre Denkprozesse. Im Laufe seiner Karriere lehrte Piaget an verschiedenen Universitäten und Institutionen und beeinflusste somit Generationen von Psychologen, Pädagogen und Wissenschaftlern.
Piagets Theorien und Modelle
Piaget hat während seiner Karriere eine Reihe von Theorien und Modellen entwickelt, die sein umfangreiches Werk in der Entwicklungspsychologie und kognitiven Entwicklung prägten. Daneben beeinflussten diese aber auch Bereiche wie die Pädagogik, die Erziehungsberatung und die kognitiven Neurowissenschaften sowie die Erkenntnistheorie.
- Theorie der kognitiven Entwicklung: Hierbei handelt es sich um Piagets bekannteste und einflussreichste Theorie.
 - Theorie der genetischen Epistemologie: Diese Theorie beschäftigt sich mit der Entstehung und Entwicklung von Wissen.
 - Theorie der genetischen Entwicklung der Intelligenz: Piaget postulierte, dass Intelligenz ein aktiver, konstruktiver Prozess ist, bei dem Individuen ihr Wissen und Verständnis durch eigene Aktivitäten aufbauen.
 - Theorie der moralischen Entwicklung: Untersuchung der Entwicklung der Moral bei Kindern und Jugendlichen.
 
Das Stufenmodell der kognitiven Entwicklung
In der Theorie über die kognitive Entwicklung unterscheidet Jean Piaget im Wesentlichen vier Hauptphasen voneinander:
- Sensorimotorische Stufe (Geburt bis 2 Jahre): Säuglinge lernen, indem sie ihre Sinne und motorischen Fähigkeiten einsetzen, um ihre Umgebung zu erkunden. Während ein Neugeborenes zunächst nur über angeborene Reflexe verfügt, beginnt bereits nach wenigen Monaten das Lernen verschiedener Fähigkeiten. Laut Piaget entwickeln sie im Alter von etwa zwölf Monaten die sogenannte Objektpermanenz. Das bedeutet, dass sie erkennen, dass Gegenstände auch dann noch da sind, wenn sie sie nicht sehen.
 - Präoperationale Stufe (2 bis 7 Jahre): In dieser Phase entwickeln Kinder Sprache und symbolisches Denken. Prägend für diese Entwicklungsstufe ist nach Piaget das symbolische oder vorbegriffliche Denken. Das Kind erlernt Sprache und beginnt sich über Vorbegriffe auszudrücken. Ausserdem wird symbolisches Spielen möglich, weil das Kleinkind lernt zwischen Objekten und ihrer Symbolik zu unterscheiden. Bis zum Alter von etwa sieben bis acht Jahren erlernt das Kind das anschauliche Denken.
 - Konkret-operationale Stufe (7 bis 11 Jahre): Kinder beginnen, logisch zu denken und können Probleme lösen, die konkrete Objekte oder Beispiele erfordern. Das Denken ist auf dieser Stufe noch auf anschauliche Inhalte begrenzt, wird aber zunehmend komplexer. Es werden grundsätzliche Regeln oder Merkmale von Situationen wahrgenommen und in Relation mit der Umwelt gesetzt.
 - Formal-operationale Stufe (11 bis Erwachsenenalter): Jugendliche und Erwachsene können abstrakt denken und Probleme lösen, die auf hypothetischen Situationen basieren. Während des Übergangs zum Jugendlichen kann mit abstrakten Inhalten zunehmend rein gedanklich umgegangen werden. Es entwickelt sich die Kompetenz bestimmte Probleme auch ausschliesslich theoretisch zu analysieren und systematisch zu bedenken.
 
Verhaltensexperimente
Jean Piaget verwendete Verhaltensexperimente als wesentliche Methode, um seine Theorie der kognitiven Entwicklung zu stützen. Diese Experimente wurden entwickelt, um das Denken und die kognitiven Fähigkeiten von Kindern in verschiedenen Altersgruppen zu untersuchen. Ein Beispiel für eines seiner berühmten Experimente ist das “Drei-Berge-Experiment”. In diesem zeigte Piaget Kindern im Vorschulalter eine Miniaturlandschaft mit drei Bergen unterschiedlicher Höhe und Form. Jeder Berg hatte eine spezifische, charakteristische Marke an seiner Spitze. Dann wurde den Kindern eine Puppe gezeigt, die die Landschaft aus verschiedenen Positionen betrachtete. Piaget stellte fest, dass jüngere Kinder (im präoperationalen Stadium) angaben, die Puppe sehe genau dasselbe wie sie selbst, unabhängig von ihrer Position. Dies zeigte eine Art von Egozentrismus, bei dem die Kinder Schwierigkeiten hatten, die Perspektive anderer Personen zu berücksichtigen.
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Diese und andere Verhaltensexperimente halfen Piaget, die Entwicklungsstadien seiner kognitiven Theorie zu identifizieren und die charakteristischen Denkweisen in jedem Stadium zu beschreiben. Sie trugen dazu bei, unser Verständnis der kindlichen Entwicklung und der kognitiven Prozesse zu vertiefen. Piagets Arbeit beeinflusste nicht nur die Psychologie, sondern auch die Pädagogik, die Erziehung und andere Disziplinen, die sich mit der Entwicklung von Kindern befassen.
Wichtige Begriffe in Piagets Theorie
- Gleichgewichtsregulation: Kinder streben danach, ein Gleichgewicht zwischen ihrem aktuellen Verständnis der Welt und neuen Informationen aufrechtzuerhalten.
 - Assimilation: Prozess, in dem das Kind die Wirklichkeit an seine aktuelle kognitive Organisation anpasst.
 - Akkommodation: Anpassung der kognitiven Strukturen an neue Erfahrungen.
 
Kritik an Piagets Theorie
Bei allem Einfluss und Bedeutungsreichtum, den Jean Piagets wissenschaftliches Lebenswerk für die Psychologie bedeutet, gibt es auch verschiedene Kritikpunkte an seinem Schaffen.
- Zunächst habe Piaget die Kompetenzen der Kinder unterschätzt, die bei geeigneter Aufgabenstellung zum Teil vergeblich früher Leistungen erbringen können, als nach dem Stufenmodell angenommen.
 - Neueren Forschungsergebnissen zufolge verläuft die kognitive Entwicklung bei Kindern wesentlich schneller als von Piaget angenommen. Kleinkinder erwiesen sich zudem als viel kompetenter, was ihre Denkmuster und Schlussfolgerungen betrifft.
 - Abgesehen davon sind die individuellen Unterschiede in der kognitiven Entwicklung in Bezug auf Geschwindigkeit und Umfang teilweise so gross, dass ein universelles Stufenmodell grundsätzlich in Frage gestellt wird.
 - Darüber hinaus besteht der Vorwurf, dass soziale beziehungsweise kulturelle Faktoren von Piaget nicht hinreichend bei der kognitiven Entwicklungstheorie in Betracht gezogen wurden.
 - Die Methodik als solche wird deswegen kritisiert, da sie lediglich beschreibt, nicht aber erklärt, also Ursache-Wirkungs-Beziehungen beleuchtet.
 
Einfluss auf die Pädagogik
Piagets Pädagogik hat einen starken Einfluss auf die Bildung auf der ganzen Welt gehabt:
- Bieten Sie Möglichkeiten für konkretes Lernen und Exploration.
 - Stellen Sie offene Fragen, die Kinder zum kritischen und kreativen Denken anregen.
 - Erstellen Sie eine Klassenzimmerumgebung, die sicher und unterstützend ist, in der sich Kinder wohl fühlen, Risiken einzugehen und Fehler zu machen.
 
Piagets Pädagogik ist ein wertvolles Werkzeug für Pädagogen, die ein stimulierendes und ansprechendes Lernumfeld für ihre Schüler schaffen möchten. Piagets Pädagogik ist eine der einflussreichsten Theorien der kognitiven Entwicklung und des Lernens.
Weitere Theorien der kognitiven Entwicklung
Kognitive Entwicklungsprozesse werden in verschiedenen wissenschaftlichen Theorien untersucht. Dabei gibt es keine allumfassende Theorie, sondern unterschiedliche Ansätze mit verschiedenen Schwerpunktsetzungen.
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- Lew Wygotski (1896 bis 1934): Formulierte eine Art „Gegentheorie“ zu Piaget, in der er untersuchte, welche Bedeutung der kulturelle Kontext, in dem Kinder aufwachsen, für die kognitive Entwicklung hat.
 - Domänenspezifische Theorien: Die Kernwissentheorie (Carey, Spelke) und die Informationsverarbeitungstheorien (Siegler, Case).
 
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