Als Angehöriger des individualisierten westlichen Kulturkreises fällt es einem schwer zu begreifen, dass es Menschen gibt, denen es nicht leichtfällt, «ich» zu sagen. Doch genau dies ist etwa bei den Koreanern der Fall: Sie können über ihr Innerstes stets nur in der dritten Person reden.
Das westliche Konzept des Selbst
Die konkrete Gestalt dessen, was man heute als das Ich oder das Selbst bezeichnet, ist in Europa eine wichtige historische Errungenschaft. Diesem Selbst werden in der Regel folgende Eigenschaften zugeschrieben:
- Es ist eine Entität, mit sich identisch, um sich zentriert, sich der eigenen Einheit bewusst, autonom, strukturiert, einzigartig, wollend und agierend.
 - Das Ich übt Kontrolle über die eigenen Gedanken, die Emotionen und das Handeln aus.
 - Ein solches Selbst kann zum Gegenstand der Analyse und der Introspektion gemacht werden.
 - Es macht die unverwechselbare Identität eines Individuums aus.
 
Selbstwahrnehmung im koreanischen Kontext
Dass die Selbstwahrnehmung und das Reden über sich eine andere Gestalt besitzen können, illustriert das Beispiel Korea. Bereits die Tatsache, dass der westliche Begriff «Selbst» keine Entsprechung in der koreanischen Sprache besitzt, deutet einen grundlegenden Unterschied an. Die Einführung der westlichen Psychologie, Psychiatrie und Psychoanalyse im 20. Jahrhundert machte die Konstruktion eines Terminus technicus notwendig. Im wissenschaftlichen Kontext wird heute das Wort «jagi» benutzt, um das englische «self» ins Koreanische übersetzen zu können. Aber wie eine Umfrage unter Studenten zeigte, wussten diese damit nichts anzufangen. Eine Heimat scheint das neue Wort in Korea noch nicht gefunden zu haben.
Sprachliche Besonderheiten
Im Koreanischen ist es auf der Ebene der Sprache ohnehin schwierig, ein Ich zu konstruieren, da es mehrere Wörter gibt, die «ich» bedeuten und deren Benutzung von Höflichkeitsstufen abhängt. Dies gilt für alle Personalpronomen. Das koreanische Selbstbild bleibt flexibel an das Beziehungsgefüge geknüpft. Dem fügt sich die schwache Stellung des Satzsubjekts. Denn ein Satz benötigt im Koreanischen nicht immer ein Satzsubjekt. In Konversationen ist es sogar eher die Regel, dass es wegfällt. Das Fehlende wird vom Kontext her erschlossen. Man kann also ständig über sich sprechen, ohne «ich» zu sagen.
Unpersönliche Redeweise
Den ersten westlichen Korea-Kennern im 19. Jahrhundert fiel auf, dass die Koreaner von sich anders redeten, als man es im Westen gewohnt war. Diese «unpersönliche Redeweise», die das Ich zum Verschwinden zu bringen schien, machte ihnen grosse Mühe. Dahinter verbirgt sich ein vielschichtiges sprachliches Phänomen von grosser philosophischer Bedeutung. Die Koreaner reden viel häufiger von sich in der dritten Person, als es im europäischen Sprachraum üblich ist. Die komplizierten Höflichkeitsregeln gebieten es, für sich eine Selbstbezeichnung zu wählen, die der Gesprächssituation adäquat ist.
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Ausdruck von Bedürfnissen und Emotionen
Eine weitere Eigenheit besteht darin, dass man die eigenen Bedürfnisse, Wünsche und Handlungen unpersönlich ausdrückt. Hat man Durst, sagt man «Der Hals ist trocken». Beim Hunger heisst es: «Der Bauch ist hungrig.» Ist jemand wütend, sagt man «Die Wut steigt auf». Anstatt «Ich bin vor Ärger sprachlos» sagen die Koreaner «Das Ki ist verstopft», wobei mit «Ki» die zirkulierende kosmische Vitalenergie gemeint ist.
Die Rolle des "Leibs"
Es gibt im Koreanischen auch ein Wort, das man etwa mit «Leib» übersetzen kann. Dieser Leib spielt in gewissen Situationen die Rolle des Ich. So heisst «Ich bin krank» im Koreanischen «Der Leib ist schmerzlich». Geht es einem besser, sagt man «Der Leib hat sich gebessert». Daneben gibt es weitere Instanzen wie «Geist» oder «Vernunftnatur», die ebenso eigene Zuständigkeiten besitzen. Die Vielfalt dieser sprachlichen Eigentümlichkeiten legt den Schluss nahe, dass ein starkes, alles dominierendes «Ich» nicht vorhanden ist.
Das Ma-um als funktionales Äquivalent
Sucht man in Korea dennoch nach etwas, das ein funktionales Äquivalent zum «Selbst» des Westens darstellen könnte, dann ist dies am ehesten das Ma-um. Darin liege, so heisst es, der Schlüssel zum Verständnis der Koreaner und der koreanischen Kultur. Ma-um ist das, was einen Menschen wahrhaft zum Menschen macht. Es hat sich, geschliffen durch die Literatur und bereichert durch das Leben, im Laufe der Jahrhunderte zu einem subtilen und komplexen kulturellen Gebilde geformt.
Ma-um benennt jenes angeborene Zentrum spontaner menschlicher Regungen, das durch Kultivierung verfeinert werden kann. Es ist der Moral, der Empathie und der Einsicht fähig und steht in offener Beziehung zum Umfeld. Ma-um besitzt gewisse organische Qualitäten. Denn man kann es «berühren» oder «streicheln». Das Charakteristische am Ma-um sind jedoch seine Autonomie und seine Spontanität. Es reguliert das gesamte emotionale Leben eines Menschen und verleiht so einer Person eine eigene Note. Die ideale Kommunikation zwischen zwei Menschen gilt als von Ma-um zu Ma-um, wortlos.
Man kann es «öffnen», «geben», «senden» und «nehmen». Liebt jemand einen anderen, dann heisst es «Mein Ma-um geht zu dir». Wenn einem etwas gefällt, sagt man «Es kommt ins Ma-um hinein». In einem bekannten Schlager heisst es: «Liebe kommt wortlos zum Ma-um und umfängt es sanft.» Man versucht auch, das Ma-um der untreu gewordenen Person «zurückzuwenden». Verunsicherung kommt, wenn es «wankend» wird. Einsam ist man, wenn das Ma-um «keinen Ort hat, wohin es gehen könnte». Ist jemand in tiefster Trauer, «schmerzt» sein Ma-um, was mit dem Seelenschmerz in Europa vergleichbar ist.
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In seiner Empfindsamkeit und Verletzlichkeit besitzt das Ma-um gewisse Aspekte der Seele in der europäischen Kulturtradition, die selber keine Entsprechung in Korea hat. So ist die tiefste Verwundung, die man einem Menschen zufügen kann, die des Ma-um. Die Koreaner können ihr Ma-um «falten», und in diesen «Faltungen» horten sie Erinnerungen, Sorgen und Freuden. Man kann es auch «leeren», um sich Linderung zu verschaffen. Oft ziehen die Koreaner in buddhistische Klöster, um durch Meditationen die Leere im Ma-um zu erreichen. Anstatt zu sagen «Du verstehst mich nicht», wirft man in Korea vor: «Du verstehst mein Ma-um nicht.» Denn Nähe und Intimität lassen sich nur durch das Berühren des Ma-um herstellen.
Konturlos und schwebend
Das Ma-um bleibt in seiner schillernden Gestalt eigentümlich konturlos und schwebend. Denn das, was in ihm geschieht, wird nie richtig ins Bewusstsein gehoben und strukturiert. Das Ma-um ist zwar das «Selbst», die Person, aber doch nicht identisch mit ihr, sondern etwas Eigenes, Objekthaftes darin. Eine schwer beschreibbare Differenz bleibt. Ma-um und «Ich» stehen in einer offenen und oszillierenden Beziehung. Die Koreaner sagen ständig «Ich kenne mein eigenes Ma-um nicht mehr», fühlen sich im Zwiespalt und zuweilen ihm ausgeliefert. Sie grübeln viel über den «Fluss» des Ma-um nach, dessen Innenleben oft unerklärlich und voller Widersprüche zu sein scheint.
Scheitern der Subjektphilosophie
So seltsam es erscheinen mag, die Koreaner können über ihr Innerstes stets nur in der dritten Person reden. Diese schwer fassbare Gestalt des Ma-um führt dazu, dass der Versuch der koreanischen Philosophen gescheitert ist, eine koreanische Variante der Subjektphilosophie zu entwickeln. Ebenso mussten die koreanischen Psychologen und Psychiater die Idee aufgeben, eine Theorie der Introspektion zu formulieren. Es gibt keine beschreibbare abgezirkelte Innerlichkeit, in die man hineinblicken oder die man zum Gegenstand der Analyse machen kann. Das dürfte wohl der Grund dafür sein, dass die Koreaner meditieren. Meditation ist weder Introspektion noch Analyse, sondern mehr ein Sichversenken und Eintauchen in die Unterschiedslosigkeit. Das Ziel der Zen-buddhistischen Meditation ist es, die Ich-Grenze ganz zu überwinden und sich mit dem All identisch zu setzen.
Distanced Self-Talk in der Psychologie
«Distanced self-talk» wird in der Psychologie das Phänomen genannt, dass man über sich selbst nicht in der Ich-Form spricht, sondern stattdessen beispielsweise seinen eigenen Namen verwendet. Laut der aktuellen Forschung kann der «distanced self-talk» dabei helfen, dass man z.B. seine Emotionen besser regulieren kann.
Einfluss auf das Selbstkonzept
Gainsburg und Kross von der University of Michigan gehen in ihrem Artikel der Frage nach, wie der Gebrauch des eigenen Namens (anstatt der Ich-Form) beim Nachdenken über sich selbst das Selbstkonzept beeinflusst. Unser aktives Selbstkonzept - wie wir in diesem Moment über uns denken - setzt sich zusammen aus unserem stabilen Selbstkonzept und Merkmalen der Situation, in der wir uns befinden. Die eigene Stimmung, kulturelle Kontexte oder auch unsere soziale Rolle in gewissen Situationen: all diese Faktoren können unser Selbstkonzept beeinflussen. Doch können wir Menschen auch bewusste Strategien anwenden, um unser Selbst auf eine andere Weise zu betrachten? Gainsburg und Kross zeigen auf, dass der «distanced self-talk» uns eine Möglichkeit dafür bieten könnte.
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Abstraktheit und soziale Identität
Die Autor*innen untersuchten, wie die Verwendung des eigenen Namens beim Nachdenken über das Selbst zwei Dimensionen des Selbstkonzepts beeinflusst, Abstraktheit und soziale Identität. Ein vermehrter Gebrauch von abstrakten Begriffen (z.B. «gerecht», «mutig») und ein geringer Gebrauch von sozialen Identitäten (z.B. Wörter wie «Vater», «Student/in») bei der Selbstbeschreibung weisen auf eine höhere Distanz zum Selbst hin.
Experimentelle Ergebnisse
In einem ersten Experiment mussten die Teilnehmenden eine klassische Aufgabe zur Messung des Selbstkonzepts machen. Sie sollten dabei bis zu 20 Aussagen über sich selbst aufschreiben. Eine Gruppe sollte die Sätze beginnen mit «Ich bin…», die andere Gruppe mit «(Eigener Name) ist…». Es zeigte sich, dass Personen abstraktere Begriffe zur Selbstbeschreibung wählten, wenn sie ihren eigenen Namen dafür verwendeten, als wenn sie in der Ich-Perspektive schrieben. Ebenfalls beinhalteten die Schilderungen weniger soziale Identitäten, wenn der eigene Name gebraucht wurde im Vergleich zur Ich-Form.
In einem zweiten Experiment wurden diese Zusammenhänge erneut gefunden. Zusätzlich zur «Ich-Bedingung» und «Eigener-Name-Bedingung» wurde jedoch auch noch eine dritte Bedingung hinzugefügt. In dieser hatten die Teilnehmenden die Aufgabe, sich in ihren besten Freund hineinzuversetzen und diesen aus der Ich-Perspektive zu beschreiben. Personen in der «Eigener-Name-Bedingung» zeigten eine höhere Abstraktheit in ihren Beschreibungen und erwähnten weniger soziale Identitäten (zeigten also eine höhere Selbst-Distanz), als in der «Freund-Bedingung». Es scheint also nicht das Gleiche zu sein, ob man über sich selbst aus einer Beobachterperspektive nachdenkt (Selbstdistanz) oder ob man über andere Personen nachdenkt (soziale Distanz).
Fazit
Das Phänomen des «distanced self-talk» macht deutlich, wie subtile Veränderungen der Sprache dazu führen können, dass wir unsere Betrachtung auf uns selbst verändern. Ob wir von uns selbst als «Ich» sprechen oder aber unseren eigenen Namen verwenden, beeinflusst wie wir uns selbst deuten und somit unser Selbstkonzept konstruieren.