Hypochondrischer Wahn und Depression: Definition und Behandlung

Dr. Kathrin Doege, Oberärztin am Clienia Psychiatriezentrum Wetzikon, behandelt Menschen mit Wahnvorstellungen und schildert beispielhafte Dialogszenen, wie sie in ihrem Therapiealltag vorkommen könnten, um einen Einblick in die Welt ihrer Patienten zu ermöglichen.

Was ist Wahn?

Eine einfache, allgemein akzeptierte und auch rechtlich verbindliche Definition von Wahn gibt es nicht.

Wesentliches Kennzeichen des Wahns ist die Unverrückbarkeit der Vorstellungen.

Formen von Wahn

In den Jahren ihrer Berufstätigkeit hat Dr. Doege verschiedene typische und weniger häufige Wahnvorstellungen erlebt. Ihnen allen ist gemeinsam: Sie haben massive Auswirkungen auf den Alltag der Betroffenen.

Beispiele unterschiedlicher Wahnformen sind:

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  • Liebeswahn: Die Betroffenen wähnen sich in einer Liebesbeziehung, die nicht real existiert.
  • Hypochondrischer Wahn: Die Betroffenen vermuten bei sich schwere und meist unheilbare Erkrankungen.
  • Verfolgungswahn: Ein Wahn, der relativ häufig vorkommt.
  • Scheinschwangerschaft: Eine für mich besonders dramatische Form von Wahn. Zum Glück kommt sie nur sehr selten vor.

Hypochondrischer Wahn im Detail

«Eine typische Form von Wahn ist hypochondrischer Wahn. Die Patienten leiden unter extremer Angst, zu erkranken oder gar zu versterben.

Stellen Sie sich folgende Szene vor: Ein Patient spürt plötzlich während der Therapiestunde ein Stechen im Brustbereich. Er zuckt zusammen, wird bleich und ängstlich.

«Da ist es wieder, das Stechen! Jetzt habe ich einen Herzinfarkt. Ich muss sofort ins Spital, bitte rufen Sie die Ambulanz». Ich versuche ihn zu beruhigen, erkläre, dass er jetzt schon bei drei Kardiologen gewesen sei, dass wir unzählige EKGs gemacht hätten und wirklich alles in Ordnung sei.

«Das Stechen, was sie spüren, entsteht durch Muskelverspannungen, weil sie so angespannt sind und Angst haben», sage ich. Aber ich dringe einfach nicht zu ihm durch, er läuft panisch in meinem Zimmer umher, verlangt nach einer Ambulanz. Er kann nicht verstehen, dass nicht sein Herz, sondern seine Angst das Problem ist.»

Verfolgungswahn im Detail

Ich will Ihnen eine beispielhafte Szene schildern, wie sie so oder ähnlich vorkommen kann: Eine Patientin und ich sitzen im Therapiezimmer. Die Patientin schaut aus dem Fenster auf die Strasse und schweigt. Dann duckt sie sich auf einmal.

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«Ist alles in Ordnung?» frage ich. Sie schweigt. «Was sehen Sie, beunruhigt Sie etwas da unten?» «Da ist einer von ihnen. Sehen sie, wie langsam er geht. Und jetzt schaut er zu unserem Gebäude herüber.» Ich schaue nach draussen und sehe einen mittelalten, unauffällig gekleideten Mann die Strasse entlanggehen. Ab und zu schaut er zu unserem Gebäude.

«Was denken Sie, wieso schaut er zu uns herüber?» «Na, weil er zu der Truppe gehört, die hinter mir her ist.» «Jetzt öffnen Sie einmal ihren Blick, von dem Mann weg auf die ganze Strasse, rechts und links. Gibt es da etwas, was noch Ihre Aufmerksamkeit anzieht? Was die Aufmerksamkeit dieses Mannes auch angezogen haben könnte?» «Nein» «Und was ist mit dem Fensterputzer hier am Gebäude?»

Scheinschwangerschaft im Detail

Ich erinnere mich an folgende Szene, die ich noch als Assistenzärztin vor vielen Jahren erlebt habe: Eine junge Frau lag auf der Untersuchungsliege ihrer Gynäkologin. Diese fuhr mit dem Ultraschallkopf über ihren Bauch. Die junge Frau starrte auf den Bildschirm, der das Ultraschallbild zeigte.

«Aber da, das Schwarze ist doch das Baby. Ich habe doch ein Baby.» Die Gynäkologin widersprach ihr. «Nein, das Schwarze ist nur die leere Gebärmutter. Sie sind nicht schwanger, Sie haben kein Kind im Bauch.» Die Frau aber wollte es nicht glauben, egal wie deutlich die Gynäkologin ihr erklärte, dass sie nicht schwanger sei.

«Doch, doch. Das Kind ist da. Ich spüre es. Meine Brüste sind gespannt. Mir ist immer übel. Ich spüre es. Jetzt hat es endlich geklappt. Endlich».

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Ursachen und Diagnose

Wahnsymptome sind eigentlich ein typisches Merkmal schizophrener Psychosen. Man muss davon allerdings andere Erkrankungen abgrenzen, die ebenfalls mit einer Wahnsymptomatik einhergehen.

Für diese Störungsbilder ist die Gruppe der «anhaltenden wahnhaften Störungen» (F22) definiert, bei der die Wahnsymptomatik das auffälligste klinische Charakteristikum ist. Auch in der ICD-11 wird die Abgrenzung der «wahnhaften Störungen» von «Schizophrenien», «schizoaffektiven Störungen» sowie «akuten und vorübergehenden psychotischen Störungen» beibehalten. Dabei wird das Kernsyndrom darin gesehen, dass eine isolierte, wahnhafte Symptomatik mit einer Dauer von mindestens drei Monaten vorliegt.

Eine dritte grosse Gruppe von Erkrankungen, bei denen man Wahnsymptome beobachtet, sind organische Störungen. Dabei sind die Ursachen für die Entstehung der Wahnsymptome sehr vielfältig. Es kann sich um primäre Erkrankungsprozesse des Gehirns handeln (z.B. Epilepsien, traumatische ZNS-Verletzungen, Folgen zerebrovaskulärer Ereignisse, entzündliche ZNS-Erkrankungen usw.) oder um systemische Erkrankungen (endokrine oder metabolische Erkrankungen, Autoimmunerkrankungen), die - wie in dem oben beschriebenen Fall - sekundär zur Wahnsymptomatik führen.

Nimmt der Arzt eine körperliche Erkrankung als Ursache der Wahnsymptomatik an, sollte nach der ICD-10 eine «organische wahnhafte (schizophrenieforme) Störung» (F 0.62) kodiert werden.

Bei vielen Menschen, die eine Wahnerkrankung entwickeln, lassen sich keine strukturellen Veränderungen des Gehirns finden, die als Ursache benannt werden könnten. Trotzdem gibt es Hirnerkrankungen, die eine Wahnsymptomatik verursachen können und die sich durch die Bildgebung darstellen lassen.

Bei jeder Erstmanifestation einer Wahnerkrankung im höheren Lebensalter sollte man deshalb eine solche bildgebende Kontrolle (CT/MRT) vornehmen. Sie dient zum Ausschluss eines Hirntumors oder einer anderen, neu aufgetretenen strukturellen oder entzündlichen Läsion des ZNS. Darüber hinaus sollten mögliche endokrine und metabolische Störungen durch Labordiagnostik abgeklärt werden.

Neben den Routineparametern (Blutbild, Nierenfunktionsparameter, Elektrolyte, Leberwerte, TSH, LDH, CK, CRP, Blutzucker, BSG, Gerinnungsstatus, Urinstatus) sollte man auch noch folgende differenzierte Zusatzuntersuchungen veranlassen: TPHA, Cortisol, Vitamin B1 und B12, eventuell HIV (3).

Wahnsymptome im höheren Alter

Wahnsymptome können auch im höheren Alter auftreten und unterschiedliche Ursachen haben. Die Betroffenen sind von ihren Wahninhalten überzeugt und weisen daher oft eine Behandlung energisch zurück.

Wahnsymptome können erstmals im höheren Lebensalter auftreten und für die Betroffenen, aber auch für Angehörige und das weitere Umfeld eine grosse Belastung sein.

Eine 75-jährige Patientin kommt in Begleitung ihres Ehemanns in die Sprechstunde. Sie berichtet zunächst nicht selbst über ihre Beschwerden. Stattdessen schildert der Ehemann verschiedene Vorkommnisse in den vergangenen Wochen, die ihm bei seiner Frau auffielen. Vor allem abends entwickelt sie nach seinen Angaben eine auffällige Unruhe. Sie geht dabei immer wieder zur Haustür, um zu kontrollieren, ob diese wirklich verschlossen ist. Sie zieht die Vorhänge im ganzen Haus zu, weil sie befürchtet, man könne sie beobachten. Sie hat Angst, das Haus zu verlassen, weil sie glaubt, andere Menschen planten, sie «abzuholen». Wen sie damit genau meint, kann der Ehemann nicht in Erfahrung bringen. Sie sprechen deshalb nur von «denen da». Seine Frau sei auch schreckhafter geworden, berichtet er. Neulich, als der Postbote an der Haustür stand und Briefe in den Kasten warf, war sie ganz aufgeregt, versuchte sich im Haus zu verstecken und weinte plötzlich heftig. Er kann nicht verstehen, wovor sie eigentlich Angst hat. Vor ein paar Tagen weckte sie ihn nachts, weil sie Einbrecher im Haus vermutete. Da in der Nachbarschaft tatsächlich vor Kurzem eingebrochen worden war, beunruhigte ihn das natürlich. Gemeinsam mit seinem Sohn durchsuchte er Haus und Garten, fand aber nichts Auffälliges. Seine Frau hatte sich den Einbrecher offenbar nur eingebildet.

Psychopathologischer Befund

Die Patientin ist wach, bewusstseinsklar und wirkt im Kontakt affektiv gedrückt, zeitweise auch ängstlich. Auf Fragen antwortet sie oft ausweichend. Im Gespräch ist sie überwiegend ratlos, wendet sich hilfesuchend an den Ehemann. Im inhaltlichen Denken imponiert ein Beobachtungs- und Beeinträchtigungswahn. Das formale Denken erscheint noch ausreichend geordnet, aber eingeengt auf die Idee, beobachtet zu werden. Es besteht eine deutliche Wahnstimmung bei nur mässiger Wahndynamik. Der Antrieb ist reduziert. In der weiteren Untersuchung fällt auf, dass die Patientin zeitlich unscharf orientiert ist, sie kann weder den Wochentag noch das Datum benennen. Als Monat gibt sie fälschlicherweise September statt Oktober an. Das Jahr nennt sie richtig.

Körperliche Untersuchung und Laborwerte

Die körperliche Untersuchung ergibt - bis auf eine leichte Adipositas und ein bekanntes Mitralvitium - keine wesentlichen pathologischen Befunde. Der Blutdruck ist mit 150/90 mmHg grenzwertig erhöht. Der Puls liegt bei 88/min.

Die Labordiagnostik zeigt: Hämoglobin 11,5 g/dl (12-16 g/ dl), Erythrozyten 3,93 pl (4,2-5,4 pl), C-reaktives Protein 6,9 mg/l (0,0-5,0 mg/l), Kreatinin 1,32 mg/dl (0,0- 1,2 mg/dl), Harnstoff 50 mg/dl (21-43 mg/dl), Cholesterin 262 mg/dl (2-200 mg/dl). Alle anderen Werte sind unauffällig. Aufgrund der Wahnsymptomatik erfolgt die Überweisung an eine Psychiaterin.

Behandlung

Ältere Menschen mit einer Wahnerkrankung sind in ihren Vorstellungen oft sehr stark verfangen und weisen mitunter spezifische Hilfs- und Therapieangebote energisch zurück.

Eine wesentliche Aufgabe des Hausarztes ist es daher, das Vertrauen der Betroffenen zu erhalten, damit die weitere Behandlungsbereitschaft nicht gefährdet wird.

Er sollte sich nicht vehement gegen die Wahninhalte stellen und versuchen, die Patienten von der Unrichtigkeit ihrer Wahnideen zu überzeugen.

Es sollte also keine Zeit und Energie darauf verwendet werden, die Wahnkranken durch Argumente von ihren Ideen abzubringen.

Das sogenannte Konzept der «doppelten Buchführung des Wahns» bietet hier eine mögliche Grundlage: Es wird das Wahnthema weitgehend unangetastet gelassen und dem Wahn nicht widersprochen. Vielmehr fokussiert man auf andere Lebensbereiche, in denen die Betroffenen bereit sind, Hilfsangebote anzunehmen.

allgemeines unterstützendes Angebot zu unterbreiten: «Ich verstehe, dass Sie das alles sehr belastet. Dieser Stress tut Ihnen gesundheitlich sicherlich nicht gut. Aber wie kann ich Ihnen denn nun am besten helfen?»

Für Menschen mit einem Wahn kann es sehr hilfreich sein, wenn der Hausarzt sich von der Wahnthematik unbeeindruckt zeigt und neutral verhält.

Wahnerkrankungen bei älteren Menschen sollten wie bei jüngeren Patienten neuroleptisch behandelt werden. Beim Älteren ist die höhere Empfindlichkeit hinsichtlich unerwünschter Arzneimittelwirkungen zu beachten. Die Dosierung der Medikamente ist entsprechend der Fachinformation ans Lebensalter anzupassen. Man sollte mit einer möglichst niedrigen Dosis beginnen und diese langsam und schrittweise steigern (start low, go slow).

Nach Möglichkeit sollte man mit einem atypischen Neuroleptikum starten (Risperidon 0,5-1 mg [Risperdal® und Generika], Quetiapin 25-100 mg [Seroquel® und Generika], Olanzapin 5-10 mg [Zyprexa® und Generika], Aripiprazol 5-15 mg [Abilify® und Generika]).

Auf die Entwicklung von extrapyramidalmotorischen Nebenwirkungen sollte man besonders achten. Vor allem ältere Menschen können durch das sogenannte «Parkinsonoid» sturzgefährdet sein.

Eine wesentliche Aufgabe für Hausärzte ist es daher, das Vertrauen der Betroffenen zu gewinnen und einen Behandlungsabbruch zu verhindern (4).

Für Hausärzte ist es wichtig, Wahnerkrankungen rechtzeitig zu erkennen und nach Möglichkeit eine psychiatrische Weiterbehandlung einzuleiten.

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