Geh' aus, mein Herz, und suche Freud': Eine Interpretation

Paul Gerhardts (1607-1676) Lied "Geh' aus, mein Herz, und suche Freud'" zählt zu den bekanntesten Kirchenliedern und ist einer der heute lebendigsten Texte der Barockzeit überhaupt.

In einer historisch sensibilisierten Interpretation dieses Meisterwerks entziffert Johann Anselm Steiger das Sommerlied konsequent aus den frömmigkeits-, lyrik- und theologiehistorischen Kontexten heraus. Dabei werden erstmals die Theologie der Barockzeit, die geistliche Naturkunde des 17. Jahrhunderts sowie die Emblematik angemessen berücksichtigt.

„Geistliche Dichtung“, zu der auch das Kirchenlied gehört, unterscheidet sich von religiöser Lyrik durch ihre Funktion im kirchlichen Bereich und im geistlichen Leben. Deshalb ist sie diesem Zweck angepasst, z.B. mit verständlicher Sprache, Singbarkeit, Reimen und auch speziellen Inhalten, die sich an den Festen und dem Ablauf des Kirchenjahres orientieren. Dies ist der entscheidende Unterschied zur Kunstdichtung. Geistliche Lyrik ist Gebrauchsdichtung.

Glücklicherweise waren die Schöpfer vieler Gesangbuchlieder sowohl gute Theologen als auch gute Dichter. Dass die ästhetischen Ansprüche der Funktion untergeordnet sind, heißt also nicht, den Anspruch auf poetische Qualität aufzugeben.

Als Gerhardt den „Sommer-Gesang“ dichtete (1653 zum erstenmal in Crügers Gesangbuch gedruckt), war der 30-jährige Krieg noch nicht lange vorüber. Beschädigte Städte und Dörfer, verwüstete Ländereien gab es noch überall und vor allem die Entbehrungen und die Grauen des Krieges hatten in den Herzen der Überlebenden tiefe Spuren hinterlassen.

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Paul Gerhardt ermuntert die Menschen mit seinem „Sommer-Gesang“ auf seelsorgerliche Weise, sich in diesen schwierigen Zeiten nicht der Lethargie und Resignation hinzugeben, sondern hinauszugehen und Freude zu suchen, die Gaben Gottes in der Schönheit der Natur zu entdecken und darüber Gott zu loben.

Der Dichter fordert das eigene Herz auf, sich zu freuen: „Suche Freud“ wird erläutert durch „schau an“ und „sieh“, d.h. Die sommerliche (der Sommer schloss damals auch den Frühling ein) Natur zeigt die Welt als Zier- und Nutzgarten. Diese Form ist an den Parallelismus membrorum der Psalmen angelehnt, schon die Einleitung erinnert daran, dass das Vorbild der Kirchenlied-Dichtung zu allen Zeiten auch alttest. Die Anrede an das Herz ist ein geläufiger Topos, besonders beliebt im 17. Jh., vor allem als Einleitungsformel. Wie in den Psalmen ist das Herz personifiziert, wird damit das Zentrum der Person angesprochen.

Das reflexive „sich ausgeschmücket haben“ ist ein biblisches Passiv (pass. „mir und dir“ - eine der zahllosen zweigliedrigen Formeln Gerhardts - wie z.B. „kund und wissend“, „Fried und Freud“ etc., die seine Texte auch gut einprägbar machen. Hier wird das angekündigte Thema entfaltet, wird aufgezählt, was angeschaut werden soll: die Perspektive wechselt vom „Ich“ zum „Es“. Der Dichter führt die „schöne Garten-Zier“ vor: in epischer Breite malt er liebevoll ein „irdisches Paradies“ aus.

Der naheliegende Einschnitt jeweils nach dem dritten Vers, der Mitte einer Strophe, wird eingehalten, nie folgen aber zwei syntaktisch völlig gleich gebaute Halbstrophen aufeinander, das macht die Sache abwechslungsreich und vermeidet alle Eintönigkeit. Dem harmonischen Inhalt entspricht die harmonische Form. Es geht hier nicht um einen naiven, blinden Realismus, dies ist kein „Erlebnisgedicht“, denn der Dichter schildert, wie er sich Landschaft ausmalt.

Das hier geschilderte Naturbild ist der literararischen Idyllen-Tradition entnommen. Gerhardt dichtet ganz im Sinne der Vorstellungswelt, nach der man seit dem Altertum bis ins 18. Jh. hinein Landschaft dichtete und malte.

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„Narzissen und die Tulipan“: damit knüpft Gerhardt zum einen an Mt 6,28f an (Salomo), zum anderen war die Tulpe damals in Europa nicht nur die Lieblingsblume der Barockdichter, sondern die modernste und kostbarste Blume. „Erdreich“ und „Staub“ erinnern an die Vergänglichkeit des Menschen, aber nun ist alles mit „grünem Laub“ überzogen, Gott lässt den Menschen auf einer „grünen Aue“ (Ps. 23) wohnen. Die Schilderung der Natur wird abgeschlossen mit den Menschen, die sich am Wachsen des Weizens freuen. Der Weizen steht hier als Exemplum für die Güte Gottes, der „überflüssig“, also im Überfluss, gibt. Der Weinstock und der Weizen (Strophe 6 und 7) lassen das Abendmahl anklingen.

Gott und Mensch sind innig verbunden („süßer Gott“, Str. Die Nennung Gottes erfolgt hier als Antonomasie, d.h. Dieser Kunstgriff wird benutzt, damit die Attribute noch einmal angeführt werden können, die für den Sachzusammenhang funktionale Bedeutung haben: das soll der Mensch beim Anschauen der Natur erkennen! Strophe 7 führt von der Naturbetrachtung, die für sich noch keinen Sinn hat, zum Lob des Schöpfers.

Immer wieder wurde in Str. 2-7 auch auf akustische Phänomene aufmerksam gemacht (Vogelgesang, Lustgeschrei der Hirten). Das Einstimmen wird als selbstverständliche Reaktion dargestellt: wer das Leben der Natur, ihre Schönheit und ihren Nutzen gesehen hat, der kann gar nicht anders, als ihren und seinen Schöpfer zu preisen!

„Kann und mag nicht ruh’n“ zeigt an, dass das Lob gleichzeitig äußerer Notwendigkeit wie innerer Zustimmung entspringt. Somit wird wieder auf die 1. Strophe verwiesen: es erfolgt eine Antwort auf die Aufforderung, anzuschauen, indem eingestimmt wird in das Lob Gottes. Der zum Schauen aufgeforderte Mensch soll die Taten Gottes wahrnehmen und mit Zustimmung antworten.

Nach Strophe 8 kommt ein inhaltlicher Einschnitt, es wird ein neuer Vorstellungskreis entfaltet: das Jenseits. „Ach, denk ich…“: Die persönliche Anrede Gottes beginnt und wird bis zum Schluss durchgehalten. Das Ich wendet sich von der Natur weg Gott zu. Überraschend vielleicht jetzt die plötzliche Rede von der „armen Erden“, die durch das „reiche Himmelszelt“ überboten wird. Aber warum wird die Erde nun als „arm“ bezeichnet? Von der Erde wendet sich der Dichter fragend dem reichen Himmelszelt zu.

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Vom irdischen Gesang (Str. 7) kommt er zum himmlischen (Str. 10): wie muss es da wohl erst klingen! Auch hier ist wieder von Singen und Musik die Rede. Das Wort „Lust“ kommt ursprünglich aus der Botanik und bezeichnete das sprießende grüne Laub. Die Antworten, wie es wohl in Christi Garten klingen könnte, werden wieder per Überbietung und Analogie zum Diesseits gegeben. Die einzige direkte Antwort, wie es sein wird, geht auf biblische Bilder zurück, es ist der Gesang der Seraphim (Jes 6,2; Offb. 7,11). Wunsch des Glaubenden ist die Aufnahme in den himmlischen Chor Gottes.

Dahinter steht die mystische Vorstellung, die einzige Aufgabe der Erlösten sei das Lob Gottes. Diese Vorstellung hat Gerhardt der zeitgenössischen Erbauungsliteratur entnommen, z.B. Johann Arndts Büchern und Schriften, die weit verbreitet waren. Der Abschluss des gedanklichen Höhenfluges erfolgt, der Dichter kehrt zur Erde zurück.

Wieder lässt sich erahnen, dass das irdische Leben weder einfach war noch idealisiert wird. Im Vertrauen auf künftige himmlische Freuden will der Dichter die irdische Mühsal ertragen, dabei Gott loben und anbeten. Diese Strophe verweist wieder auf die 1. Str. Str. Str. Diese Begriffe sind nach altprotestantischer Dogmatik die drei Bestandteile des christlichen Glaubens. Strophe 8. und 12.

Auf das Versprechen in Str. 12, Gott weiterhin zu loben, folgt ein Gebet. Jede Strophe enthält 2 Bitten, den Abschluss macht das Gelöbnis, Gott „hier und dort“ zu dienen, auf Erden und im Jenseits. Die Bitten sind parallel gebaut und in allegorischer Aussageweise formuliert.

Die Ausdrucksweise Gerhardts ist glatt, gefällig und gemäßigt, Anmut und Wohlklang sind seine Prinzipien. Sie entspricht damit dem zeitgenössischen Ideal der „elegantia“. Das Kirchenlied soll erbauen und belehren, (delectare et docere), dafür war nach damaliger poetologischer Vorschrift das Genus medium, die mittlere Stilart, angemessen.

Das Gedicht ist damit nicht nur ein kleines Sprachkunstwerk, sondern greift mit seiner Bildebene und der Ausdeutung auch noch eine im Barock sehr populäre Bildstruktur auf, das Emblem. Ziel der Embleme, die vor allem in Büchern verbreitet wurden (eines der berühmtesten zeitgenöss. Emblembücher ist das „Emblematum liber“ von Andrea Alciati von 1532), aber auch z.B. in Kirchen und Schlössern aufgemalt sind (Emblemzyklen an Decken und Emporen etc.), ist es, unanschauliche Sachverhalte durch ein Bild anschaulich zu machen.

Die Überschrift (Inscriptio, Lemma, Motto) gibt das Thema an (z.B. „Lieb gegen seine Kinder“), darunter folgt die Pictura, das Bild, z.B. ein Vogel auf dem Nest, und zwar eine Ringeltaube; drittens erfolgt eine Auflösung des Bildes, das oft rätselhaft scheint und sehr verschlüsselt ist. Die Auflösung des „Rätsels“ erfolgt durch das Epigramm bzw. die Subscriptio, z.B. wird dargestellt, wie eine Ringeltaube in winterlicher Zeit brütet (Kahler Baum).

„Geh aus, mein Herz“ zeigt, wie kunstvolle Sprache zugleich schlicht, verständlich und dabei theologisch sehr dicht sein kann. Dieses im besten Sinne erbauliche Lied hat seine Wirkung und Bedeutung nicht verloren. Es spricht Herz und Verstand an, es vermittelt auf anschauliche Weise nebenher Theologie, es versetzt den Mensch in ein freudiges Staunen, umfasst aber gleichzeitig auch das Ende des Lebens und die Hoffnung auf das ewige Leben, es ermöglicht die persönliche Identifikation mit dem Inhalt. Seine schönen Bilder können bis heute „das Herz erheben“ und machen es zu einem der populärsten Lieder des Gesangbuches.

Ehrlich gesagt hat mich als Kind die fröhliche Aufforderung, dass mein Herz aus mir herausgehen soll, immer ein bisschen erschreckt. Ich stellte mir vor, dass ich ohne Herz ja tot wäre und erst dann in den sinnenfreudigen Genuss all dessen kommen sollte, von dem das Lied spricht. Ich war dann richtig erleichtert als ich später lernte, dass mit „mein Herz“ Paul Gerhardts Frau angeredet war. Für sie hat er das Lied gedichtet, als sie sehr traurig über den Tod eines ihrer Kinder war. Das Lied sollte Frau Gerhardt ermuntern. Sie sollte damit aufgefordert werden, sich nicht in ihrem Leiden einzurichten und darüber zu verbittern, sondern stattdessen aus sich herauszugehen und Freude zu suchen. Das war ein guter Rat, der auch heute noch vielen hilfreich sein kann.

Denn gerade in unseren alltäglichen Beschwernissen und im Leiden übersehen wir das leicht: Die Aktivität und das Wollen sind wichtige Eigenbeiträge zum Wohlbefinden, auch wenn es letztendlich Geschenk und Gnade ist, dass wir über Menschen und Dinge Freude empfinden. „Schau an“ und „Sieh“ sind weitere Aufforderungen zur Eigeninitiative. Dass wir Schauen und Sehen können ist eine Schöpfungsgabe. Sie verbindet uns mit unseren Mitgeschöpfen und dem Schöpfer selbst, von dem in 1. Mose 1,34 erzählt wird: „Und Gott sah an alles, was er gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut“.

Wir bezweifeln das ja heutzutage oft und gerne und gefallen uns gut in der Rolle von Weltverbesserern, obwohl die Fortschritte in Bezug auf Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung immer erst mäßig sind. Vielleicht hilft es weiter, das Anschauen und Hinsehen zu intensivieren: Ist ein Mensch, der nach allen Regeln bio- und anthropotechnischer Kunst ‚designt’ ist, wirklich erstrebenswert? Wie weit ist grüne Gentechnik bekömmlich?

In den ersten sieben Versen seines Liedes reiht Paul Gerhardt viele Naturbeschreibungen aneinander, um sie als Gottes Gaben auszuweisen. Fast alle haben einen biblischen oder christologischen Bezug: Das Bild der Glucke erinnert an die fürsorgliche Beziehung Christi zu uns Gläubigen (Mt 23,37). Das Bild vom süßen Weinstock und dessen starkem Saft lässt an das Ich-bin-Wort Jesu vom Weinstock und den Reben denken (Joh 15,5) und die Nennung des Weizens spielt auf das Abendmahl und das Brot des Lebens an (Joh 6,35).

Alles, was die Welt schön macht, ist auch für mich gemacht, aber nicht nur: Die Welt ist ausgeschmückt nicht nur für mich, für einen einzelnen Menschen, nicht nur für ein Volk oder für eine politische Großmacht, sondern für alle: „Und siehe, wie sie (die Gärten) mir und dir sich ausgeschmücket haben!“ Es geht hier nicht um Erbauung, um naturverliebte individuelle Innerlichkeit, sondern um Wertschätzung der Schöpfung in Gegenseitigkeit (mutuality).

Die Dynamik des Liedes steigert sich. Singend kommen wir nach dem siebenstrophigen Spaziergang durch die schöne Welt, durch den uns Herz und Sinne durch Gottes großes Tun erweckt wurden, bei uns selbst an. „Ich selber“ bin gefragt. Ich kann und mag nicht ruhen: „Ich will dem Herrn singen mein Leben lang und meinen Gott loben, solange ich bin“ (Ps. 104,33).

Aber geht es denn so einfach, sich von irdischen Naturerfahrungen in den Himmel hineinzukatapultieren? „Wer Gott in der Natur sucht, soll sich gefälligst auch vom Oberförster beerdigen lassen“, spotten wir, um nur ja nicht auf den Weg der natürlichen Theologie zu geraten, den wir mit Karl Barth doch längst als einen Irrweg erkannt haben.

Im Gegensatz zu vielen Theologen heute hatte Paul Gerhardt noch keine Scheu, einen großen Bogen zu spannen von der Schönheit der Schöpfung, die jedermann jederzeit anschauen kann, zur Schönheit des Himmels und des Paradieses. Im Vergleich des irdischen mit dem himmlischen Garten zeigt er tröstlich auf, dass der irdische Garten nur, beziehungsweise schon einen Vorgeschmack auf den himmlischen darstellt. Die Schöpfung ist für ihn ein Gleichnis für die geglaubte, kommende Erlösung. Nahezu todessehnsüchtig schwärmt er: „O wär ich da! O stünd ich schon..!“ (V 11).

Wer an dieser Stelle aus der Predigt des Liedes aussteigt, wird das Evangelium in ihm nicht entdecken. Paul Gerhardt gelingt nämlich in Vers 12 die Kurve zurück ins diesseitige Leben. Er weiß ja nur zu gut, wie schwer das irdische Joch auf Menschen lastet. Er lebt nach dem 30 jährigen Krieg in einer Zeit, in der Städte und Dörfer verwüstet sind, und bittere Armut; Krankheit und Tod die Menschen niederdrücken. Trotzdem strengt er sich an und bietet alles ihm Mögliche auf, um auch auf dieser „armen Erde“ Grund zum Lobpreis zu finden.

Im Wachsen und Werden der Natur erkennen wir gleichnishaft den Segen Gottes in der Welt, der jeden und jede von uns dazu befähigt, Glaubensfrüchte hervorzubringen. Eine dieser Früchte könnte sein, dass wir die Angst verlieren, dass uns die Natur beherrschen könnte und wir sie deshalb beherrschen müssen. Uns wird geistliches Wachstum zugetraut. Wenn wir aus uns selbst herausgehen, schaffen wir Raum für Gottes Geist.

So können wir Wurzeln treiben, Grünen und Fruchtbringen trotz des Leibes Joch. Am Ende werden wir alle wieder ein Stück der Schöpfung. Die Herrschaft hatte, hat und wird haben der, den wir als Schöpfer des Himmels und der Erde bekennen.

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