Seit einiger Zeit sind Autisten die Lieblinge der Popkultur.
Autismus in den Medien
Medial wird die Hirnentwicklungsstörung immer präsenter: Im Kino, in US-Serien und im Fernsehen trifft man regelmässig auf autistische Menschen.
Im Klassiker «Rain Man» von 1988 spielte Dustin Hoffman noch einen Autisten, der sein Leben lang auf Hilfe angewiesen ist. Heute sind Autisten in Filmen lebenstüchtige Helden - Ermittler zum Beispiel oder Anwälte.
Greta Thunberg, die schwedische Klimaaktivistin, demonstrierte während der UNO-Klimakonferenz in New York, welche Kraft es freisetzen kann, wenn sich Autisten mit ihrem von Natur aus starken, oft besessenen Fokus auf einzelne Themen für etwas engagieren.
Die aktuelle Begeisterung für Autisten befördert die Akzeptanz, dass die Menschheit auch psychisch bunt ist. Neurodiversität nennt man das.
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Die Autisten aus den Filmen sind in der Regel hochintelligent und hochfunktional. Sie mögen ein bisschen seltsam sein und nervige Marotten haben, aber sie verfügen über herausragende Fähigkeiten, auf die man als ordinär entwickelter Mensch ganz schön neidisch sein kann.
Annette Frier kann als TV-Anwältin Ella Schön sämtliche Paragrafen des Bürgerlichen Gesetzbuchs auswendig sagen, Sheldon Cooper aus «The Big Bang Theory» ist ein genialischer Physiker, Sofia Helin löst in der skandinavischen Krimiserie «The Bridge» ihre Fälle auf nahezu übernatürliche Art.
Realität vs. Fiktion
Fakt ist jedoch: «Hochbegabungen kommen unter Autisten nicht häufiger vor als im Rest der Bevölkerung», sagt Luise Poustka, die Direktorin der Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Universität Göttingen.
Und Inselbegabungen wie das umfassende Paragrafenwissen, Greta Thunbergs Fähigkeit, rückwärts zu sprechen, oder die zahlenmässige Erfassung heruntergefallener Streichhölzer mit einem Blick sind ausgesprochen selten.
Autistische Menschen sind zum grossen Teil niedrigbegabt, jeder Zweite von ihnen ist geistig behindert.
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Anders als die Filmstar-Autisten sind die meisten Autisten im wahren Leben jedenfalls auf Unterstützung angewiesen, um in einer Welt voller lauter, kontaktfreudiger Menschen zurechtzukommen.
Die Betroffenen können jedoch trainieren, was anderen intuitiv gegeben ist.
So lernen sie, Gesichtsausdrücke zu interpretieren und daraus Gefühle zu lesen.
Auch üben sie, Blickkontakt aufzunehmen, wenngleich das bei vielen ein Leben lang seltsam starr wirkt.
«Autismus ist nicht heilbar, aber man kann durch therapeutische Angebote oft sehr gut helfen», sagt Luise Poustka.
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So wird auch die Gefahr für weitere Störungen gemindert, die zusammen mit dem Autismus oder als Folge davon auftreten: soziale Phobien, Depressionen, Angststörungen, ADHS oder selbstverletzendes Verhalten. 70 Prozent aller Autisten haben mindestens eine davon.
Kritik an "Ella Schön"
Im Fernsehen (ZDF) wurde der Zweiteiler Ella Schön gezeigt. Annette Frier spielt darin eine Frau mit Asperger-Syndrom. Betroffene Autisten haben aber keine Freude an dieser Serie.
Denn was dort gezeigt wird, entspricht nicht ganz dem, was Autisten wirklich sind. Es wurde extrem überspitzt.
Nur schon der Filmtitel «Inselbegabung» kommt bei den Betroffenen schlecht an. Denn «Inselbegabung» und Autismus haben nichts miteinander zu tun.
Das ist ein Vorurteil, das durch den Film «Rain Man» in die Welt gekommen ist.
Dass man sozial wenig Kontakte oder Probleme im Sozialen hat, dass man Sprache sehr genau nimmt, das wurde ebenso überspitzt dargestellt. Man hat alle Klischees gesammelt und sie in die Rolle der Ella Schön gepackt.
Oftmals sind die Filme extrem überdreht oder sie handeln von Autisten mit Hochintelligenz. Sie zeigen nicht das wirkliche Leben der Mehrheit der Autisten.
Ein Film welcher gefallen hat, ist Asperger’r are Us. Es handelt sich um eine Doku über eine Comedy-Truppe, welche aus Autisten besteht.
Diese Doku zeigt Autismus Spektrum in etwa so, wie Autisten sind. Und in dieser Doku sieht man auch sehr gut, wie unterschiedlich Autismus Spektrum ist.
Autismus als "Modediagnose"?
Früher galt Autismus als seltene Erkrankung, heute gehört jeder hundertste Mensch zum Autismusspektrum.
«Die Diagnose ‹hochfunktionaler Autismus› ist auf dem besten Weg, eine Modediagnose zu werden», beklagt Inge Kamp-Becker von der Universität Marburg.
Oft würden Kinder, die nur in sich gekehrt oder eigenwillig sind, als krank etikettiert. Das fördere eine Schonhaltung und schade ihrer Entwicklung.
So viele Menschen denken inzwischen von sich, sie seien autistisch, dass Psychiater sie erst einmal vom Gegenteil überzeugen müssen.
Dabei ist längst nicht jeder Eigenbrötler autistisch: Genügend Computer-Nerds kleben hinter ihren Bildschirmen, finden Kaffeepausen im Kollegenkreis abstossend - und sind dabei zufrieden.
Nicht jeder, der nicht dauernd plappert, ist krankhaft introvertiert. Nicht jeder, der trauert, ist depressiv. Und nicht jeder Hibbelige hat ADHS.
Wie sagte Greta Thunberg? «Ich habe Asperger, und das heisst, dass ich manchmal etwas anders bin.» Aber unter den richtigen Umständen sei «Anderssein eine Superkraft».
Andersartigkeit als Chance
Autisten sind nicht gerade dazu prädestiniert, als Bedienung oder im Kundenservice zu arbeiten.
Aber sie finden immer öfter eine Anstellung als Bibliothekare, Lageristen, Informatiker oder in anderen Berufen, in denen hoch konzentriertes Arbeiten und Ordnungsliebe wichtig sind.
Der Softwareriese SAP hat Autisten als Programmentwickler eingestellt; und die israelische Armee nutzt ihre Fähigkeiten bei der Erkennung von Strukturen auf Satellitenbildern.
In jeder Andersartigkeit liegt eine Chance. Umso wichtiger ist es, dass stolze Aktivisten wie die der «Autism Pride»-Bewegung der menschlichen Originalität Glanz verleihen.
Therapeutische Ansätze und Kontroversen
Es gibt Kontroversen über verschiedene Therapieansätze für Autismus, einschliesslich Applied Behavior Analysis (ABA) und FIVTI.
ABA: Einige Kritiker sehen ABA als eine Art Dressur oder sogar Foltermethode an, die darauf abzielt, autistische Kinder in eine "normale" Form zu zwingen, anstatt ihre Individualität zu akzeptieren.
Eltern sollten sich gründlich informieren, bevor sie sich für eine ABA-Therapie entscheiden, und darauf achten, mit welchen Personen sie zusammenarbeiten.
FIVTI: FIVTI ist eine Therapiemethode, die vom KJPD Zürich beworben wird. Einige Kritiker befürchten, dass FIVTI Elemente von ABA enthält, einschliesslich der Bestrafung unerwünschten Verhaltens.
Es ist wichtig, die Intensität der Eingriffe und die potenziellen Auswirkungen auf das Kind zu berücksichtigen, einschliesslich des Verlusts von Rückzugsmöglichkeiten und der Beeinträchtigung des natürlichen Lernprozesses.
Alternativen und Inklusion
Es gibt alternative Ansätze, die sich auf die Förderung von Interessen, die Unterstützung individueller Bedürfnisse und die Schaffung einer akzeptierenden Umgebung konzentrieren.
Eltern können lernen, wie sie ihr Kind besser unterstützen können, anstatt zu versuchen, es zu verändern.
Die Förderung von Vielfalt und die Akzeptanz von Andersartigkeit sind entscheidend für die Inklusion von Autisten in die Gesellschaft.