Die Neunte: Ein Meisterwerk und ideologischer Zankapfel

Vor zweihundert Jahren brachte Ludwig van Beethoven seine letzte und kühnste Sinfonie zur Uraufführung - seither ringt die Welt mit dem Stück.

Beethovens letzte vollendete Sinfonie, seine längste und kühnste, war auf Anhieb ein «grossartiger Triumph», so erinnert sich Böhm weiter, übrigens im Einklang mit vielen anderen Berichten. Doch so selbstverständlich, wie es heute scheint, war der Erfolg keineswegs.

Schon rein äusserlich müssen die Umstände jener Uraufführung im Wiener Kärntnertortheater ziemlich skurril, jedenfalls befremdlich angemutet haben.

Neben dem wie entfesselt an seinem Pult tobenden Beethoven agierte an dem Abend nämlich parallel noch ein zweiter Dirigent. Es war der Kapellmeister Michael Umlauf, und Böhm bekennt lapidar: «Wir Musiker sahen nur auf dessen Taktstock.»

Es ging nicht anders: Der Gehörverlust, mit dem Beethoven seit über zwei Jahrzehnten haderte, war zu dem Zeitpunkt derart fortgeschritten, dass man ihm Zeichen geben musste, wenn das Publikum - wie damals üblich - nach und sogar mitten in den einzelnen Sätzen applaudierte.

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Man habe den «tragischen Eindruck empfangen», so schilderte es eine beteiligte Choristin, dass er nicht mehr «imstande war, der Musik zu folgen».

Das Bild ist gleichwohl sprechend: In einer sinnlosen Dirigierpantomime durchlebt der Komponist das eigene Werk rein geistig, entrückt in eine ideale Welt, in der er am liebsten auch gleich sämtliche Stimmen und Instrumente selber übernehmen würde; währenddessen mühen sich die Ausführenden in der realen Welt mit den Zumutungen seines Notentextes ab.

Bei diesem Neben- und Gegeneinander ist es geblieben, die Diskrepanz zwischen dem himmelstürmenden Anspruch und den Niederungen der Interpretation begleitet die 9. Sinfonie bis zum heutigen Tag.

Das Skandalon

Das gilt in der Praxis noch immer für jede einzelne Aufführung der anspruchsvollen Partitur. Es gilt aber ebenso für die ideelle Auseinandersetzung mit dem Stück.

Sie ist im Lauf der zwei Jahrhunderte durch viele Höhen und noch mehr Tiefen gegangen, und diese wechselhafte Rezeptionsgeschichte ist inzwischen selber Teil des Werks, sie bestimmt dessen Wahrnehmung mit.

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Auch wenn «die Neunte» eine regelrechte Marke und eines der populärsten Werke des klassischen Kanons geworden ist, kann man sie deshalb kaum mehr «naiv» hören, also ohne ein Bewusstsein dafür, dass sie während dieser zweihundert Jahre immer beides war: bewundertes Meisterwerk und ideologischer Zankapfel zugleich.

Bewunderung wie Streit entzünden sich vor allem am Schlusssatz. Das ist ein wenig einseitig, denn seinerzeit müssen auch die ersten drei Sätze beispiellos avantgardistisch gewirkt haben. Zumal vor dem Horizont einer Epoche, die gerade einem kollektiven Belcanto- und Rossini-Rausch verfallen war.

Doch das Skandalon der 9. Sinfonie war und ist dieses Chorfinale mit der Vertonung von Friedrich Schillers frühem Gedicht «An die Freude».

Weil sich die eingängige Melodie zur Textzeile «Freude, schöner Götterfunken» unterdessen vom eigentlichen Kontext gelöst und ins kollektive Ohrwurm-Gedächtnis eingeschlichen hat - seit 1972 ist sie obendrein Hymne des Europarats sowie der Europäischen Union -, muss man sich die Radikalität von Beethovens Konzeption einmal vor die Ohren rufen.

Bevor in diesem vierten Satz die Singstimmen einsetzen, hat Beethoven gut fünfzig Minuten lang rein instrumental mit sich, mit der Welt und mit Gott gerungen.

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Am Beginn des Finales kommt es zu einer katastrophischen Zuspitzung, zur sogenannten Schreckensfanfare, die er mit den stärksten Dissonanzen würzt, die seinerzeit in der Spätklassik möglich waren.

Zunächst antworten nur die tiefen Streicher auf diese Eruption: mit aufbegehrenden Gesten, dann mit einer leisen Ahnung der späteren Freudenmelodie - der Durchbruch gelingt noch nicht.

Als jedoch bald darauf die Schreckensfanfare ein weiteres Mal ertönt, betritt der Mensch die imaginäre Szenerie.

Mit dem sprichwörtlich gewordenen Ausruf «O Freunde, nicht diese Töne!», der von Beethoven selbst, nicht von Schiller stammt, verwirft der Bariton-Solist gleichsam die gesamte zuvor gehörte Musik.

Der Chor stimmt ein, und jäh ist der Weg frei für die alle Negation hinwegfegende Freudenhymne.

Die Wirkung ist noch bei heutigen Aufführungen frappierend. Nicht nur, weil sich die Sinfonie in diesem Moment vor unseren Augen und Ohren in eine Kantate verwandelt.

Sondern weil die Musik mit dem Eintritt der Stimmen eine Botschaft erhält. Die vormals rein instrumentale Gattung, in der Emotionen wie Schmerz, Angst, Begeisterung oder Freude allenfalls abstrakt, als musikalische Gefühlslagen, ausgedrückt werden konnten, vermag von nun an eine klar definierte Aussage zu transportieren.

Es ist dieser Schritt, der die 9. Sinfonie zum Ausnahmewerk macht und den Gang der Musikgeschichte verändert.

Tradition und Ideologie

Wiederum hat die Sache zwei Seiten. Einerseits lassen sich viele Komponisten vom Vorbild Beethovens inspirieren: Beginnend mit Berlioz’ «Roméo et Juliette» und Mendelssohns «Lobgesang»-Sinfonie, entwickelt sich eine eigene Tradition; sie reicht über die grossen Vokalsinfonien Gustav Mahlers bis ins späte 20. Jahrhundert, bis zu Schostakowitschs «Babij Jar» und Hans Werner Henzes «Sinfonia 9» (eine Antwort auf Beethoven nach Anna Seghers’ «Das siebte Kreuz»).

Andererseits beginnen ausgerechnet mit der Einbeziehung gesungener Texte die Probleme. Denn wider Erwarten öffnen sie Umdeutungen und Vereinnahmungen Tür und Tor. Im Fall der Neunten ist deren Geschichte lang und teilweise äusserst fragwürdig.

An ihren Anfängen steht unter anderem Richard Wagner. Er bringt die Neunte am Vorabend der Revolution von 1848/49 in Dresden zur Aufführung.

Der Anarchist Michail Bakunin belobigt ihn dafür mit den beklemmenden Worten, wenn beim nahenden Weltenbrand alle andere Musik verlorengehe - für den Erhalt dieser Sinfonie müsse man sein Leben einsetzen.

Wagner wiederum setzt die Sinfonie später für weniger brenzlige Zwecke ein, etwa bei der Grundsteinlegung des Bayreuther Festspielhauses. Er initiiert damit den heute vielerorts gängigen Brauch, festliche Anlässe mit Wiedergaben der Neunten zu veredeln. Mal mehr, mal weniger sinnstiftend.

Die denkwürdigste Aufführung in neuerer Zeit war in dieser Hinsicht Leonard Bernsteins Berliner Dirigat an Weihnachten 1989, wenige Wochen nach dem Mauerfall. Bernstein änderte dabei den Text und liess «Freiheit, schöner Götterfunken» singen.

Was damals perfekt zur deutsch-deutschen Euphorie passte, war strenggenommen eine weitere, wenn auch stimmige Vereinnahmung auf der endlosen Liste. Dorthin gehört bereits jene «Friedens- und Freiheitsfeier», die das Arbeiterbildungsinstitut zum Jahreswechsel 1918/19 im Leipziger Krystallpalast veranstaltete. Sie ist der Ursprung der heute weltweit gepflegten Tradition, das Werk zu Silvester aufzuführen.

Dass deutsche Soldaten die Partitur schon im Ersten Weltkrieg als ideologisches Rüstzeug an die Front mitgenommen haben sollen, zählt zu den weniger harmlosen politischen Vereinnahmungen. Sie gipfeln in einem regelrechten Missbrauch der Neunten im Sozialismus und im Nationalsozialismus.

Einmal sollte Schillers idealistische Textzeile «Alle Menschen werden Brüder» nun vom Sieg der Arbeiterklasse künden; ein andermal musste sie die Einheit der braunen Volksgenossen beim deutschen Welteroberungswahn stärken.

Bezeichnend erscheint, dass sowohl Stalin wie Hitler das Werk exzessiv für Propagandazwecke instrumentalisierten - beide setzten fraglos auf dessen Massenwirkung. Adorno notierte knapp: «Hitler und die IX. Symphonie. Seid umzingelt, Millionen».

«Der gestirnte Himmel über uns»

Die Tatsache, dass die Neunte derart zur Projektionsfläche für menschenverachtende Ideologien werden konnte, ruft bis heute Kritiker auf den Plan.

Laden der hohe Ton des Schiller-Gedichts und die Überwältigungsemphase der Musik womöglich besonders zum Missbrauch ein? Man kann die Frage mit Blick auf die Rezeptionsgeschichte sehr wohl stellen.

An Beethovens ursprünglichem Anliegen geht sie freilich vorbei: Er erhoffte sich ja gerade eine Präzisierung der Aussage durch den Text, der dementsprechend häufig umgebogen oder schlicht ignoriert wurde.

Neuere Interpretationen versuchen deshalb eine Rückbesinnung auf die ursprüngliche Botschaft, und sie fragen auch verstärkt nach deren Verankerung in der geistigen Welt des Komponisten.

Dabei wird klar, dass für Beethoven die so plastisch vorgeführte Überwindung des Leids durch die Freudenbotschaft, also eine klassische Nacht-Tag-Symbolik, den Angelpunkt des Werkes bildete.

Inhaltlich stellt sein Appell für Mitmenschlichkeit («Seid umschlungen, Millionen») einen universellen Gegenentwurf zur Restauration nach 1815 dar. Er bewegt sich zudem - das wird im säkularen Kontext meist ausgeblendet - vor einem aufgeklärten religiösen Horizont.

«Überm Sternenzelt muss ein lieber Vater wohnen», heisst es bei Schiller, von Beethoven gleich mehrmals mit Nachdruck vertont, und nicht zufällig werden im selben Konzert 1824 auch Teile seines kirchenmusikalischen Hauptwerks, der ähnlich himmelstürmenden Missa solemnis op. 123, uraufgeführt.

Dies alles spiegelt sich wider in der Lebensmaxime, die Beethoven zur Zeit der Arbeit an der Neunten formulierte; sie paraphrasiert Kants «Kritik der praktischen Vernunft»: «Das Moralische / Gesetz in uns / und der gestirnte Himmel über uns».

Parallel zur inhaltlichen Klärung, die auf ideologische Entrümpelung zielt, hat unterdessen auch die musikalische Praxis die Neunte neu erschlossen.

Mit der schlankeren Spielweise auf Originalinstrumenten ist es beispielsweise leichter möglich, Beethovens authentische Metronomangaben umzusetzen. Sie sind zum Teil dermassen rasant, dass man sie lange als utopische Verirrung des tauben Genies abtat.

Noch Anfang der 1980er Jahre wurde die Spieldauer der damals neuen Compact Disc anhand einer Aufnahme Herbert von Karajans festgelegt: auf gut siebzig Minuten. Viele heutige Dirigenten sind über zehn Minuten schneller.

Das hat Folgen für die Gesamtwirkung: Vom staatstragenden Pathos bleibt wenig, stattdessen springt uns die Musik mit einer Wucht und Dringlichkeit an, der kaum zu entkommen ist.

Friedrich Schiller

Friedrich Schiller wird im Jahr 1759 in Marbach am Neckar geboren. Das damalige Heilige Römische Reich Deutscher Nation besteht zu dieser Zeit aus vielen Grafschaften, Herzogtümern und Königreichen, in denen die Herrschenden eine uneingeschränkte Macht über das Volk besitzen. Trotz strenger Regulierungen beschäftigt sich Friedrich Schiller während seiner Ausbildung mit damals verbotenen Schriften (z. B. Rousseau, Leibniz, Voltaire, Goethe und Shakespeare). Inspiriert durch diese Werke und aufgrund seines Widerstands gegen die Willkür und den Zwang des Adels verfasst Schiller heimlich sein erstes Werk Die Räuber, das 1782 in Mannheim uraufgeführt wird. Aufgrund der Kritik an der feudal-absolutistischen Adelsgesellschaft im Werk Die Räuber muss Schiller aus seiner Heimat fliehen.

Aufgrund der zahlreichen Lebensstationen und Reisen lernt er viele verschiedene Menschen kennen. Einige dienen ihm zur Inspiration und zum Austausch von Ideen (z. B. der Philosoph Johann Gottfried Herder und der Schriftsteller Johann Wolfgang von Goethe), andere zur Unterstützung seiner finanziellen Freiheit (z. B. Goethe und Schiller lernen sich im Jahr 1788 kennen. Im Jahr 1795 veröffentlichen sie ihre erste gemeinsame Literaturzeitschrift Die Horen. Ab 1791 erkrankt Friedrich Schiller immer wieder schwer und stirbt mit nur 45 Jahren an einer akuten Lungenentzündung. Sein letztes Werk Demetrius bleibt unvollendet. Schiller geht als einer der bedeutendsten deutschen Dichter in die Geschichte ein. Seine Werke finden heute noch große Beachtung.

Friedrich Schiller ist vor allem für seine klassischen Dramen bekannt. Sein Lebenswerk umfasst jedoch viele weitere Gattungen. Er schrieb u. lyrische Werke (z. B. Zeitschriften (z. B. philosophische Abhandlungen (z. B. Geschichtswerke (z. B. Vorlesungsreihen (z. B. Seine literarischen Werke zählen hauptsächlich zur Epoche des Sturm und Drang und der Weimarer Klassik.

Auswahl seiner Werke

  • Die Räuber
  • Kabale und Liebe
  • Don Carlos
  • Wallenstein
  • Maria Stuart
  • Die Jungfrau von Orléans
  • Wilhelm Tell
  • Ode an die Freude

Die beliebtesten Gedichte des deutschen Dichters

Ob »An die Freude«, »Der Handschuh« oder »Die Kraniche des Ibykus« - hier finden sich die bekanntesten und beliebtesten Gedichte Friedrich Schillers. Diese Sammlung ist nicht nur eine Hommage an einen großen Dichter, sondern auch ein wertvoller Schatz für alle Liebhaber:innen klassischer Literatur. - Mit einer kompakten Biographie des Autors.

Details Informationen
ISBN/GTIN 978-3-15-020775-8
Produktart Taschenbuch
Einband Paperback
Erscheinungsdatum 19.11.2025
Reihen-Nr. 20775
Seiten 224 Seiten
Sprache Deutsch
Masse Breite 120 mm, Höhe 190 mm
Reihe Kritiken und Kommentare

tags: #an #die #freude #schiller #interpretation