ADHS Ursachen: Ein Blick auf Genetik und Umweltfaktoren

Die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) ist eine psychische Veranlagung, welche sich im Kindesalter bemerkbar macht und über das Adoleszentenalter hinaus bei vielen Betroffenen auch im Erwachsenenleben bestehen bleibt.

Weltweit sind rund 3.4 % der Bevölkerung an ADHS erkrankt. Die Symptome von ADHS unterliegen einer Entwicklung parallel zum Alter der Betroffenen. So sind Unaufmerksamkeit, Impulsivität und Hyperaktivität auch bei Erwachsenen mit ADHS die Hauptsymptome, jedoch kommt es zu gewissen Änderungen ihrer Ausprägung.

Zusätzlich zu den Hauptsymptomen der ADHS kommen im Erwachsenenalter weitere hinzu wie beispielsweise Desorganisation im Lebensalltag, schnelle Stimmungswechsel, Stressüberempfindlichkeit und Schwierigkeit bei der Temperamentskontrolle.

ADHS geht von einer Fehlfunktion zentraler Neurotransmittersysteme aus. Das bedeutet, dass im Zwischenraum zweier Nervenzellen nicht ausreichend Botenstoffe zur Verfügung stehen. Diese Unterversorgung führt zu einer Dysfunktion des Gehirns. Diese Fehlfunktion betrifft jene Bereiche des Gehirns, wo sich das Aufmerksamkeitssystem befindet.

Nach vielen Jahrzehnten Forschung ist klar: Die Erziehung spielt eine wichtige Rolle für die Entwicklung ADHS-betroffener Kinder, aber sie ist nicht die Ursache der Verhaltensauffälligkeiten.

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Genetische Grundlagen von ADHS

ADHS-Symptome treten in Familien gehäuft auf (Faraone und Biederman, 2000; Thapar und Kollegen, 2005). Ist ein Elternteil selbst betroffen, so erhöht sich die Wahrscheinlichkeit für eine Betroffenheit des Kindes um den Faktor 8 (Mick und Kollegen, 2002).

Forscher fanden zum Beispiel in Zwillingsstudien heraus, dass eineiige sich im Gegensatz zu zweieiigen Zwillingen sehr stark in ihren hyperaktiven Verhaltensweisen und in der Aufmerksamkeitslenkung ähneln.

Welche Gene genau an der Entstehung der AD(H)S beteiligt sind, wird momentan intensiv beforscht. Im Verdacht stehen gewisse Genvarianten, die das Botenstoffsystem im Gehirn beeinflussen.

Es wird vermutet, dass nicht nur ein Gen dafür verantwortlich ist, sondern dass es sich um ein Zusammenspiel mehrerer Gene handelt.

Die Rolle der Umwelt

Die AD(H)S wird jedoch nicht einfach vererbt. Es ist vielmehr so, dass Gene mit gewissen Umweltbedingungen zusammenwirken. Forscher haben herausgefunden, dass Stress, Alkohol- oder Zigarettenkonsum in der Schwangerschaft mit einem erhöhten ADHS-Risiko des Kindes eingeht.

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Experten diskutieren schon lange darüber, inwiefern Umweltgifte das Risiko für eine ADHS erhöhen. Die Studienergebnisse sprechen bisher keine eindeutige Sprache.

Es wird der Frage nachgegangen, inwiefern niedrige Folsäurewerte, Zink-, Eisen- bzw. ein Mangel an Omega-3-Fettsäuren die Entstehung einer ADHS begünstigen.

Gleichzeitig beeinflussen unsere Gene auch, ob wir mit gewissen Umweltbedingungen in Kontakt kommen. Drittens können gewisse Umweltbedingungen wie die Ernährung in der oder Stress in der Schwangerschaft auch dazu beitragen, dass gewisse Gene „eingeschaltet“ oder „ausgeschaltet“ werden und somit zum Zug kommen.

Umweltrisiken können nicht eindeutig ausgemacht werden, da so viele Faktoren an der Entstehung beteiligt sind. Möglicherweise könnte das Rauchverhalten in der Schwangerschaft einen Einfluss auf die Entstehung von ADHS des Kindes haben.

Dabei ist aber nicht klar, ob die Schadstoffe dem Fötus direkt schaden, oder der Fötus indirekt, zum Beispiel durch Fehl- oder Mangelversorgung, geschädigt wird. Weiter haben Tabakabhängigkeit und ADHS gemeinsame genetische Faktoren und ähnliche Umweltrisiken.

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Dasselbe Problem stellt sich bei der Untersuchung von Alkoholkonsum während der Schwangerschaft. Diskutiert werden auch diverse andere Toxine sowie Ernährungsfaktoren.

Ausserdem könnten auch eine frühzeitige Geburt sowie ein geringes Geburtsgewicht mit der Entstehung von ADHS zusammenhängen. Nach der Geburt spielen vor allem die Deprivation und Vernachlässigung eines Kindes eine Rolle zur Entstehung von ADHS. Dieser Zusammenhang lässt sich bis ins Erwachsenenalter nachweisen.

Dabei ist der unaufmerksame Subtyp besonders vertreten. Je länger eine Deprivation dauert, desto stärker wird der Zusammenhang zu ADHS. Es wird auch diskutiert, inwiefern psychische Erkrankungen der Eltern oder ein negativer Erziehungsstil an der Entstehung von ADHS beteiligt sind.

Dennoch hat sich gezeigt, dass positives Erziehungsverhalten einen Schutz vor der Entstehung von ADHS darstellt. Zuletzt könnte auch der sozioökonomische Status ein Risikofaktor sein.

Tatsächlich hängt ein geringes Familieneinkommen in der frühen Kindheit mit einer höheren Wahrscheinlichkeit, ADHS zu entwickeln, zusammen. Doch auch hier ist es schwierig, das Einkommen von anderen Faktoren, wie Mangelernährung, Erziehungsverhalten und Substanzexposition zu trennen.

Insgesamt sind kausale Einflüsse von Umweltrisiken auf ADHS vorsichtig zu betrachten und schwierig zu bestätigen.

Gen-Umwelt-Interaktionen

Es wird davon ausgegangen, dass im Rahmen der Entstehung einer ADHS Gene und die Umwelt der betroffenen Person miteinander interagieren. So kann sich die Umwelt auf die Übersetzung gewisser Gene auswirken, während gewisse genetische Faktoren das Risiko bestimmter Umwelteinflüsse erhöhen.

Besonderheiten des Gehirns bei ADHS

Kinder mit AD(H)S haben Schwierigkeiten mit der „Kommandozentrale“ im Gehirn, dem sogenannten Frontal- oder Stirnhirn. Das Frontalhirn hat viele Aufgabenbereiche: Die Stabilisierung von Konzentration, die Filterung von Außenreizen, Planung und Steuerung, Verhaltens- und Impulskontrolle und die Steuerung von Gefühlen, um nur einige wichtige zu nennen.

Neueste wissenschaftliche Erkenntnisse legen nahe, dass die Aufmerksamkeitsdefizitstörung mit einer Funktionsstörung in ebendiesem Hirnbereich und einigen Nervenzentren, die mit dem Frontalhirn in Verbindung stehen, zusammenhängt.

Untersuchungen haben gezeigt, dass bei Kindern, die an ADHS erkrankt sind, bestimmte Gehirnareale ein kleineres Volumen haben und in vorderen Abschnitten die Hirnrinde schmaler als bei gleichaltrigen gesunden Kindern ist. Der Hirnreifungsverlauf scheint verändert zu sein.

Ausserdem wurde entdeckt, dass gewisse Hirnregionen übermässig aktiv sind und veränderte Aktivierungsmuster zeigen. Die Ursächlichkeit dieser Befunde ist jedoch nicht geklärt.

Weiter ist auch hier unklar, ob es sich dabei um eine Ursache oder Folge einer ADHS handelt.

Die Rolle von Neurotransmittern

Der „Motor“ unseres Gehirns verbraucht Zucker, den es umsetzt, wenn es aktiv ist. Hirntätigkeit wird dadurch ermöglicht, dass Nervenzellen im Gehirn miteinander „kommunizieren“, also Signale aneinander weiterleiten.

Damit die Nervenzellen Informationen weiterleiten können, benötigen sie Botenstoffe (= Neurotransmitter), die vom Endknopf (=Synapse) der einen Nervenzelle zur anderen Nervenzelle „wandern“.

Es gibt verschiedene Botenstoffe im Gehirn, zum Beispiel Dopamin, Serotonin, Acetylcholin, Noradrenalin und viele andere. Manche Experten vertreten die Annahme, dass die AD(H)S durch ein verändertes Zusammenspiel und Gleichgewicht der Botenstoffe im Gehirn bedingt ist.

Diese sogenannte Botenstoffhypothese fusste am Anfang vor allem auf Studien mit Medikamenten (sogenannten Stimulanzien). Dabei erhielten ADHS-Betroffene einen Wirkstoff, der die Aktivität der Botenstoffe im Gehirn verändern soll.

Die Forscher beobachteten, dass die Kernsymptome der AD(H)S bei einem wesentlichen Teil der Betroffenen zurückgingen, wenn sie solche Stimulanzien einnahmen. Die Forscher schlossen darauf, dass durch die Medikation ein vorhergehender Botenstoffmangel „normalisiert“ werden konnte.

Heute stehen der Forschung ausgeklügeltere Methoden zur Verfügung: So wagen Wissenschaftler mit bildgebenden Verfahren einen Blick in das Gehirn und versuchen herauszufinden, ob AD(H)S-Betroffene tatsächlich an einem Botenstoffmangel leiden.

Die Forschung konnte diese Annahme bisher nicht eindeutig bestätigen, da die Ergebnisse zum Botenstoffsystem bei AD(H)S-Betroffenen bisher widersprüchlich sind.

Neuropsychologische und Temperamentsmerkmale

Es hat sich gezeigt, dass betroffene Personen über weniger gute Kontrollmechanismen verfügen und die sogenannte Inhibitionskontrolle beeinträchtigt ist. Darunter ist zu verstehen, dass jemand über die Fähigkeit verfügt, impulsive Handlungen zu kontrollieren.

Einige Phasen der Informationsverarbeitung zeigen Störungen auf, wie auch Lernprozesse. Ausserdem zeigen die betroffenen Personen veränderte motivationale Prozesse.

Temperamentsmerkmale können das Risiko, an ADHS zu erkranken, erhöhen oder bereits ein Vorläufersymptom darstellen. Erhöhte Aktivität im Säuglings- und Kleinkindalter kann auf den frühen Beginn einer ADHS hinweisen.

Auch Regulationsstörungen im Säuglings- und Kleinkindalter werden mit der Entstehung von ADHS in Verbindung gebracht. Dazu gehören exzessives Weinen, Schlafstörungen, Fütterprobleme und eine hohe negative Emotionalität.

Die willentliche Kontrolle ist weniger stark ausgeprägt bei betroffenen Personen.

Alternative Perspektiven auf ADHS

Professor Gerald Hüther vertritt die Auffassung, dass ADHS keine Krankheitsentität, sondern nur die Bezeichnung für eine Sammlung von Symptomen ist, die man bei Kindern beobachten kann. Seiner Meinung nach leiden die Betroffenen nicht an einer Aufmerksamkeitsstörung und haben auch keinen gestörten Hirnstoffwechsel, sondern eine mangelnde Sozialisationserfahrung.

Hüther argumentiert, dass die kortikalen Strukturierungsprozesse beim Kind aufgrund seiner subjektiven Bewertungen und Erfahrungen erfolgen, die jedes Kind in seiner jeweiligen Lebenswelt macht.

Ein Faktor, der seiner Meinung nach von entscheidender Bedeutung für diese Kinder ist, ist die Erfahrung der «Shared Attention». Diese Fähigkeit zu geteilter Aufmerksamkeit entsteht nicht von allein. Dazu muss ein Kind die Erfahrung machen, dass es wunderschön ist, sich mit jemand anderem auf etwas zu freuen, etwas gemeinsam zu gestalten.

Behandlung von ADHS

Primäres Ziel der Behandlung von ADHS ist die Verminderung des subjektiven Leidensdrucks sowie die Erhöhung der Lebensqualität. Hierzu gibt es diverse Therapiemöglichkeiten, welche einzeln oder auch kombiniert angewandt werden können.

Die Psychoedukation teilt sich auf in Aufklärung, Beratung und Führung. Dabei werden die Patienten und gegebenenfalls ihr unmittelbares Umfeld über das Störungsbild informiert.

Zur Behandlung von ADHS bei Erwachsenen sind in der Schweiz Medikamente mit den Wirkstoffen Methylphenidat, Dexmethylphenidat, Lisdexamfetamin und Atomoxetin zugelassen.

Inhaltlich sind aber einige Gemeinsamkeiten wie der Umgang mit Desorganisiertheit, Verbesserung der Aufmerksamkeit oder auch Impulskontrolle vorhanden. Es geht in erster Linie darum, den Umgang mit der Symptomatik zu erlernen und zu festigen.

Die Neurowissenschaft zeigt eindrücklich: Unsere Hirnentwicklung, die Vernetzungen in unserem Gehirn und die Aktivität der Botenstoffe werden auch durch Lernerfahrungen mit beeinflusst. Deshalb ist es zentral, welches Lernumfeld Kinder mit AD(H)S erhalten.

Die Umwelt, also die Bedingungen in Familie und Schule, können zwar nicht als alleinige Ursache der Verhaltensauffälligkeiten angesehen werden, sind aber erheblich an der Entwicklung der Symptomatik und des weiteren Verlaufes der Verhaltensauffälligkeiten beteiligt.

Zusammenfassung

Insgesamt hat sich gezeigt, dass ausser der hohen genetischen Belastung bisher keine eindeutigen Ursachen festgestellt werden können. Es gibt verschiedene Befunde und Argumente, die diese Hypothesen bestätigen oder z.T. auch in Frage stellen.

Letztendlich ist von einer multifaktoriellen Entstehung auszugehen, d.h. das Zusammenwirken verschiedener Faktoren beeinflusst Beginn und Ausprägung dieser Erkrankung.

Wissenschaftler erforschen Ursachen und Risikofaktoren, um bessere Möglichkeiten zu finden, mit ADHS / ADS umzugehen und die Wahrscheinlichkeit zu verringern, dass eine Person an ADHS / ADS leidet.

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