Russell-Zeichen bei Bulimie: Ursachen, Symptome und Umgang

Bulimie ist eine der häufigsten Essstörungen, aber gleichzeitig die am wenigsten erforschte. Man geht davon aus, dass etwa 2-3 % der Bevölkerung eine klinisch relevante Bulimie entwickeln. Die Dunkelziffer derjenigen, die sich nicht in Behandlung begeben, wird auf etwa 3-5 % geschätzt (ca. 0,2 % Männer). Das Alter bei Erstdiagnose liegt bei fast allen Essstörungen in der Pubertät und Adoleszenz.

Kurz zusammengefasst beschreibt das DSM 5 Bulimie wie folgt: Bulimia nervosa ist gekennzeichnet durch wiederholtes Essen von weit überdurchschnittlichen Mengen an Lebensmitteln innerhalb von wenigen Stunden (=Binges). Die Nahrungsaufnahme kann in diesen Phasen weder in der Menge, noch in dem, was gegessen wird, kontrolliert werden. Essen wird wie ein Rauschzustand erlebt.

Nachdem auch Bulimie von der Angst vor Gewichtszunahme und von Körperschemastörungen begleitet wird, erfolgen nach den Fressanfällen entsprechende Gegenmaßnahmen. Dabei wird unterschieden zwischen dem Purge Type und dem non Purge Type. Zum Purging Typ gehören diejenigen, die nach den Fressanfällen erbrechen und/oder große Mengen an Abführmitteln einnehmen. Der Non- Purging Typ erbricht nicht, nimmt keine Abführmittel, treibt aber exzessiv Sport und/oder fastet tagelang, um die aufgenommenen Kalorien wieder loszuwerden. Das Verhalten wird dann als Bulimie eingestuft, wenn es über drei Monate lang ca. 2 x wöchentlich auftritt.

Es sollte aber besser niemand auf die Idee kommen, ab und zu Mahlzeiten mittels Erbrechen oder Abführmitteln „rückgängig“ zu machen, denn diese Verhalten ist oft der Einstieg in eine Erkrankung, die einen hohen Verlust an Gesundheit und Lebensqualität zur Folge hat!

Der britische Psychiater Gerald Russell, der 1979 den Begriff „Bulimia nervosa“ prägte, bezeichnete diese Essstörung als Variante der Anorexie. Die Mehrheit der Patienten hatte eine Anorexie in der Vorgeschichte.

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Einschränkungen in der Nahrungsaufnahme- und Auswahl können zu Essstörungen führen und halten alle akuten Essstörungen aufrecht. Reduzierte Kalorienaufnahme unterhalb des Bedarfes und/oder selbst auferlegte Ernährungsregeln, die wichtige Lebensmittelgruppen ausschließen und Essen in gesund, ungesund, erlaubt und verboten einteilen, führen zu körperlichen, psychischen und mentalen Veränderungen, die Essanfälle zur Folge haben können.

Trotz der gemeinsamen Grundlage, der Mangelernährung, unterscheiden sich Bulimie und Anorexie in diversen Punkten. Patienten mit Bulimie sind in der Regel normal- bis übergewichtig, während Magersüchtige eher unter- oder normalgewichtig sind. BulimikerInnen verschlingen pro Fressanfall oft mehr als 10 000 Kcal und es bleibt selten bei nur einem Anfall. Manche Patienten berichten von bis zu 20 Attacken pro Tag! Es ist unmöglich, die vollständige Menge an aufgenommenen Kalorien wieder zu erbrechen, denn der Verdauungsvorgang/ die Resorption von Kalorien setzt sehr schnell ein, insbesondere dann, wenn sich der Körper im Hungerstoffwechsel befindet.

Sowohl Anorexie als auch Bulimie weisen Veränderungen der Botenstoffe Serotonin, Dopamin, Ghrelin und Oxytocin auf. Aber während diese Besonderheiten bei Anorexie vermutlich dazu führen, dass Essen an sich Stressreaktionen auslöst, reagieren Patienten mit Bulimie genau gegensätzlich. Essen hat auf BulimikerInnen einen beruhigenden Effekt.

Genetische Studien weisen darauf hin, dass Patienten mit Bulimie eine Mutation in den GLP 1 Rezeptoren haben (Glucagon like Peptide). Diese sitzen auf einem Gen, das in der Bauchspeicheldrüse und im Gehirn eine kontrollierende Wirkung auf den Appetit hat. Anorexie PatientInnen haben dagegen offensichtlich die biologischen Voraussetzungen, über lange Zeit nahezu vollständig auf Nahrung zu verzichten.

Eine weitere interessante Erkenntnis ist, dass nicht nur Fressanfälle Emotionen vorübergehend regulieren können, sondern dass das Erbrechen nach dem Fressanfall auch physiologisch beruhigende Reaktionen auslöst. Das ist ein Effekt, der den Teufelskreis der Erkrankung zusätzlich aufrechterhält.

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Ähnlich wie bei Anorexie ist auch bei Bulimie inzwischen klar, dass die Erkrankung bio-psycho-soziokulturell verankert und ebenso erblich bedingt ist. Es braucht also auch bei Bulimie Risikofaktoren, die die genetische Antwort provozieren.

Risikofaktoren sind auch hier: Kulturelle Ideale und der entsprechende Druck, wie Frauen und Männer auszusehen haben und was gesunde Ernährung sein soll. Familiäre Belastungen aller Art, Vorgaben von Essensregeln, Essen als Belohnungs- und Bestrafungsinstrument und/oder Eltern, die die Körper ihrer Kinder bewerten. Persönlichkeitseigenschaften wie Selbstunsicherheit, Selbstablehnung, Launenhaftigkeit und vor allem Schwierigkeiten, Impulse zu kontrollieren (im Gegensatz zu Patienten mit Anorexie, die oft sehr kontrolliert und perfektionistisch sind).

So, wie alle Essstörungen führt Bulimie neben Veränderungen an Gehirn und Psyche zu körperlichen Problematiken. Die Anzeichen von Bulimie sind zum Teil offensichtlicher als die von Anorexie:

Das Russell-Zeichen

Besonders auffällig ist das „Russell Zeichen“, benannt nach dem Psychiater Gerald Russell. Durch das selbst herbeigeführte Erbrechen kommen die Finger und die Handrücken mit den Zähnen in Kontakt und es entstehen Narben, die vor allem in akuten Phasen, deutlich sichtbar sind. Bei vielen Patientinnen sind die Speicheldrüsen geschwollen, was die Backen anschwellen lässt. Die Mundwinkel sind eingerissen, die Nägel brüchig und die Haare ausgedünnt vom Nährstoffmangel. Betroffene sind oft heiser, weil die Magensäure die Stimmbänder verätzt und den Hals entzündet. Die Zähne werden gelb, das Zahnfleisch ist entzündet und viele haben Mundgeruch.

Exzessives Fressen und Erbrechen kann zu Reflux von Magensäure, zu lebensgefährlichen Blutungen an der Speiseröhre und zu Rissen der Magenwand führen. Daneben sind auch Osteoporose, Durchblutungsstörungen, Frieren, niedriger Puls und später manifeste Herzerkrankungen aufgrund von langanhaltendem Nährstoff- und Elektrolytmangel mindestens genauso häufig, wie bei Anorexie.

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Weniger bekannte Anzeichen, die vor allem nahen Angehörigen und Freunden auffallen können, sind: Große Mengen an Nahrungsergänzungsmitteln im Haushalt, ein Versuch, den Nährstoffmangel auszugleichen. Ungezügeltes Essen, auch in Gesellschaft, oft mit nachfolgendem längerem Aufenthalt auf der Toilette. Es riecht auffällig oft nach Lufterfrischer im Bad. Aggression, wenn das Essverhalten (viel Essen) angesprochen wird. Ständiges Beschäftigen mit Essen, Kochen etc. (ähnlich wie bei Anorexie). Verschwinden von großen Mengen an Nahrungsmitteln aus der Küche. Geschirr geht „verloren“. Immense Mengen an Abfall, der oft irgendwo im eigenen Zimmer gehortet wird, bei Erwachsenen auch im Auto. Andere dürfen das Zimmer nicht betreten. Der Supermarkt wird ständig gewechselt. Permanenter Geldmangel, der auch dazu führen kann, dass LM gestohlen werden.

Die Patienten haben dann im Laufe der Zeit zunehmend mehr Fressanfälle, die zu massiveren Gegenmaßnahmen führen können, um Gewichtszunahme zu vermeiden. Das ist allerdings keine Bulimie, sondern ein „sabotierter Überlebenstrieb“.

Extremer Hunger ist ein Automatismus des Körpers, der eintritt, um Nährstoffe wieder aufzufüllen und geschädigtes Gewebe zu reparieren. Diese Phase gehört fast zwingend zur Gesundung und darf nicht unterbunden werden.

Umgang mit Betroffenen

Angesichts von lebensgefährlicher Selbstkasteiung oder masslosem Essen und Erbrechen wird die Umwelt oft machtlos. Schuld-, Versagens- oder Ekelgefühle können ein notwendiges Gespräch oder den Gang zu einer Beratungsstelle behindern. In ihrem Innern fühlen sich Betroffene jedoch hilflos und befürchten, von anderen nicht verstanden und abgelehnt zu werden. Es ist daher nicht einfach, seine Beobachtung der Betroffenen gegenüber zu formulieren. Menschen mit einer Essstörung können sich oft nicht gut durchsetzen und kämpfen mit Selbstwert-Problemen. Sie erleben die Umgebung häufig als wenig kontrollierbar, sehen sich selbst als Versager. Nur im eigenen Körper finden sie das Feld, auf dem Kontrolle möglich ist. Belehrungen über ihr Essverhalten, auch wenn sie gut gemeint sind, werden oft als Angriff auf die letzte Bastion ihrer Autonomie empfunden.

Die Erfahrung zeigt, dass viele Menschen mit Essstörungen froh sind, wenn sie endlich adäquate Hilfe erhalten; viele suchen gar lange selber nach einem Therapieplatz. Daher ist ein einfühlsames Ansprechen unbedingt notwendig. Sprechen Sie die Betroffene zunächst alleine an. Teilen Sie der betroffenen Person einfach Ihre Beobachtungen mit (z.B. «mir fällt auf, dass Sie schon sehr schlank sind und sich trotzdem für das Abnehmen interessieren») und dass Sie sich Sorgen um ihre Gesundheit machen. Erwähnen Sie, dass dies mit einer Essstörung zu tun haben könne, dass jedoch nur die Betroffene selber dies bestätigen könne. Zeigen Sie Verständnis, ohne die Ess-Störung gut zu heissen. Geben Sie auch Ihren Gefühlen (Unsicherheit, Angst, Sorge) Ausdruck, ohne verletzend zu werden. Vereinbaren Sie danach eine definierte Verantwortungsübernahme. Bieten Sie in regelmässigen Abständen Gespräche an, aber vermeiden Sie die Übernahme von Kontrollfunktionen. Teilen Sie die Verantwortung mit anderen Fachpersonen und machen Sie auf weitere Hilfsangebote aufmerksam. Reduzieren Sie jedoch die Betroffenen nicht auf die Ess-Störung und schaffen Sie keinen künstlichen Schonraum.

Eine regelmässige und vielseitige Ernährung ist notwendig für Gesundheit, Lebensenergie und Lebensfreude. Eine gesunde Nahrungsaufnahme ist rhythmisch in den Tagesablauf eingebaut und gehorcht physiologischen und sozialpsychologischen Anforderungen. Bei normalem Essverhalten wird die Nahrungsaufnahme vorwiegend durch den Hunger und den Sättigungsmechanismus gesteuert. Gerät dieser Regelkreis ausser Kontrolle, kann es zu einer qualitativen oder quantitativen Fehlernährung kommen, die ebenso zu Nährstoffdefiziten führt wie Malabsorptionssyndrome. Länger dauernde Ernährungsstörungen wirken sich auf den Gesamtorganismus aus und führen somit auch zu Hautveränderungen.

Zusammenfassung

  • Bulimie und Anorexie sind vererbbar. Die Genetik wirkt jedoch unterschiedlich (Hungern vs. Fressen).
  • Beide Erkrankungen brauchen Risikofaktoren als Auslöser. Das größte gemeinsame Risiko ist jeweils die Biologie des Hungerns, also die Reaktionen des Körpers auf einen Mangel an Energie und Nährstoffen.
  • Hungern vor Beginn der Erkrankung, Unterversorgung durch Erbrechen und stundenlanges Fasten, um die Fressanfälle zu kompensieren, halten die Bulimie aufrecht.
  • Die Persönlichkeitsmerkmale der Patienten mit Bulimie unterscheiden sich von denen mit Anorexie vor allem in der Impulskontrolle.
  • Die körperlichen und psychischen Folgen sind jeweils gravierend, jedoch nicht vollkommen identisch.
  • Die Behandlung von Bulimie ist leider ähnlich schwierig, wie die von Anorexie. Die Rückfallquote für beide Erkrankungen ist hoch, denn niemand kann leben, ohne zu essen.
Vergleich von Anorexie und Bulimie
Merkmal Anorexie Bulimie
Gewicht Unter- oder normalgewichtig Normal- bis übergewichtig
Kontrolle Hohe Kontrolle, perfektionistisch Schwierigkeiten mit Impulskontrolle
Genetik Unterschiedliche genetische Faktoren Unterschiedliche genetische Faktoren
Essverhalten Restriktion, Hungern Fressanfälle, Gegenmaßnahmen

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