Neurotizismus: Definition und psychologische Bedeutung

Das Big-Five-Persönlichkeitsmodell hat in der Psychologie die eher antiquierte, theoretische und oft realitätsfremde Typenlehre längst abgelöst. Diese individuelle Persönlichkeitsprofile rücken dabei immer mehr ins Zentrum.

Das Big-Five-Persönlichkeitsmodell

Das Big-Five-Persönlichkeitsmodell ist in der Psychologie seit Jahren bewährt. Es erklärt, wie Menschen auf Stress reagieren, sich auf ihre Umwelt einstellen, Interessen entwickeln, mit anderen zusammenarbeiten sowie ihre Rollen und Ziele definieren. Zur Bestimmung dieser grundlegenden Persönlichkeitsfaktoren werden häufig drei Testverfahren eingesetzt (NEO-Five-Factor-Inventory und das Big Five Inventory BFI), bei denen mittels Skalenfragen die Ausprägungen der Big Five-Dimensionen erfragt werden. Die Tests eignen sich allerdings sowohl zur Selbst- wie auch zur Fremdbeurteilung, beispielsweise in der 360-Grad-Beurteilung.

Die sogenannten «Big Five» sind eines der einflussreichsten Modelle der Persönlichkeitspsychologie.

Neurotizismus im Detail

Der Faktor Neurotizismus beschreibt, wie emotional stabil eine Person ist. Menschen mit niedrigen Werten in dieser Kategorie sind laut Definition emotional stabil, klagen wenig, sind unempfindlich, aber auch unsensibel.

Forscher haben in einer Studie Interessantes über Tänzerinnen und Tänzer herausgefunden: Menschen, die tanzen, sind einer Studie zufolge weniger neurotisch als ihre Mitmenschen. Zudem seien sie verträglicher, offener und extrovertierter als Personen, die nicht tanzen.

Lesen Sie auch: Mehr über Entwicklung

Beides gilt den Forschenden zufolge sowohl für Hobby- als auch für Profi-Tänzer, wie eine Studie unter Leitung des Frankfurter Max-Planck-Instituts (MPI) für empirische Ästhetik ergab.

Untersucht wurden die fünf Persönlichkeitsmerkmale Offenheit, Gewissenhaftigkeit, Extraversion, Verträglichkeit und Neurotizismus, die anhand eines umfangreichen Fragebogens ermittelt wurden.

Allerdings fanden die Forschenden auch einen interessanten Unterschied zwischen beiden Gruppen: Im Gegensatz zu Musikerinnen und Musikern sind Tänzerinnen und Tänzer nicht neurotischer, sondern - im Gegenteil - weniger neurotisch als Menschen, die nicht tanzen.

Zudem fanden die Forscher erste Hinweise, dass es Persönlichkeitsunterschiede zwischen Tänzern verschiedener Tanzstile geben könnte. So scheinen Menschen, die Swing tanzen, noch weniger neurotisch zu sein als zum Beispiel Latein- und Standard-Tänzer.

Temperament und Persönlichkeit

Unter Temperament wird nicht nur Leidenschaftlichkeit verstanden. Und zwar handelt es sich um ein jahrtausendealtes Konzept, welches das Wesen, das Gemüt oder den Charakter eines Menschen beschreibt. Inwiefern sich das Temperament von der Persönlichkeit unterscheidet, wird im folgenden Artikel behandelt.

Lesen Sie auch: Umfassende Definition von Depression

E s mag vielleicht überraschen, aber die Viersäftelehre hat bis in die Mitte des letzten Jahrhunderts Beachtung in der Persönlichkeitsforschung gefunden. Diese antike griechische Theorie geht davon aus, dass der Mensch vier Körpersäfte besitzt - gelbe Galle, schwarze Galle, Blut und Schleim - deren Konzentrationen den Gesundheitszustand einer Person bestimmen. Galenos führte aus, dass die Dominanz eines Körpersafts in einer von vier Temperamentarten resultiert:

  • Die fröhlichen und aktiven Sanguiniker*innen besitzen zu viel Blut.
  • Bei den bedrückten Melancholiker*innen überwiegt schwarze Galle.
  • Während bei den wütenden Choleriker*innen gelbe Galle dominiert.
  • Phlegmatiker*innen, die sich durch ein ruhiges, passives Temperament auszeichnen, verfügen über viel Schleim.

Diese Theorie hatte weit über die Antike hinaus Bestand und beeinflusste unteranderem Kant. Der Philosoph war ebenfalls überzeugt, dass sich alle Menschen in diese vier Kategorien einteilen liessen. Der letzte einflussreiche Wissenschaftler, der darauf Bezug nahm, war schliesslich Eysenck.

Auch wenn die Viersäftelehre mittlerweile nur noch in der Wissenschaftsgeschichte behandelt wird, hat der Begriff Temperament, der die Gemüts- oder Wesensart eines Menschen beschreiben soll, seine Definition weitgehend beibehalten. Die Autor*innen der New York Longitudinal Study, Stella Chess und Alexander Thomas, definieren Temperament als eine stilistische Komponente des Verhaltens. Nach Chess und Thomas handelt es sich um die Wie-Komponente des Verhaltens.

Persönlichkeit wird in der Persönlichkeitspsychologie als die überdauernde Konfiguration von Charakteristiken und Verhaltensmustern eines Individuums beschrieben. Um auf Chess und Thomas zurückzukommen, bildet das Temperament einen solchen stabilen Aspekt der Persönlichkeit, welcher zur Individualität einer Person beitragen kann, genauso wie Werte, Interessen und Eigenschaften.

In der Psychologie hat sich das Fünffaktorenmodell durchgesetzt. Es nimmt an, dass sich Menschen mit fünf Persönlichkeitsdimensionen (die Big Five) beschreiben lassen: Offenheit, Gewissenhaftigkeit, Extraversion, Verträglichkeit und Neurotizismus.

Lesen Sie auch: Mehr über Persönlichkeitsentwicklung erfahren

Temperament zeichnet sich somit durch sein frühes Auftreten aus. Deswegen wird angenommen, dass es eine vorwiegend biologische Basis besitzt. Bei Persönlichkeit hingegen handelt es sich um ein breiteres und komplexeres Konstrukt, welches durch Erfahrung und Entwicklung heranreift.

Was das Temperament ausmacht: Die Persönlichkeitspsychologie arbeitet mit einem Fünffaktorenmodell der Persönlichkeit (siehe Kästchen), welches auf weitläufige Akzeptanz stösst. Diese Theorie ist längst in unseren Alltag durchgedrungen, wo Begriffe wie Extraversion nicht selten zu hören sind.

Einen bedeutenden Ausgangspunkt setzten wieder Thomas und Chess in ihrer Langzeitstudie (1977). Darin identifizierten sie durch Interviews mit den Eltern der Kinder neun Temperament-Dimensionen: Aktivitätsniveau, Annäherung/Vermeidung, Intensität der Reaktionen, Reaktionsschwelle (Reizschwelle), Anpassungsfähigkeit, Rhythmizität (Regelmässigkeit), Stimmung, Persistenz der Aufmerksamkeit und Ablenkbarkeit. Mary Rothbart hat diese Kategorien etwas verfeinert.

Nun ist zwar der Inhalt des Temperaments geklärt, aber ab wann kann man denn von Persönlichkeit sprechen? Big-Five-Fragebögen, welche Werte in den Bereichen Offenheit, Gewissenhaftigkeit, Extraversion, Verträglichkeit und Neurotizismus erheben, erzielen ab dem Schulalter konsistente Ergebnisse, wobei es eventuell schon im Vorschulalter möglich ist.

Nach ihr decken Temperament und Persönlichkeit eigentlich dieselben Eigenschaften ab, nur manifestieren sich diese Eigenschaften beim Kind aufgrund des Entwicklungsstandes anders.

Damit legt Shiner dar, wie sich aus der angeborenen, temperamentalen Basis sich eine Persönlichkeit entfalten könnte.

Tabelle 1: Vergleich von Temperament-Dimensionen nach Rothbart und Big-Five-Dimensionen

Temperament-Dimensionen (Rothbart) Big-Five-Dimensionen
Extraversion/Begeisterungsfähigkeit Extraversion
Negative Affektivität Neurotizismus
Kontrolle Gewissenhaftigkeit

Psychologische Konstrukte

In der Psychologie werden Eigenschaften oder Fähigkeiten von Personen, die nicht direkt messbar sind, als psychologische Konstrukte bezeichnet. Ein Beispiel für eine Eigenschaft wäre die Extraversion (wie sehr eine Person nach aussen gewandt ist; wie stark sie aus sich heraus geht), ein Beispiel für eine Fähigkeit die soziale Kompetenz (wie gross das Verständnis für das Innenleben einer anderen Person ist oder wie gut schwierige soziale Situationen gemeistert werden). Psychologische Konstrukte sind Hilfskonstruktionen, um leichter zu beschreiben, dass eine Person, die das eine tut oder kann, häufig auch das andere macht.

Möchte man die gesamte Persönlichkeit einer Person beschreiben, werden in der Psychologie üblicherweise noch vier weitere Persönlichkeitseigenschaften neben der Extraversion herangezogen:

  • Extraversion: Wie kontaktfreudig, lebhaft und heiter ist eine Person?
  • Verträglichkeit: Wie rücksichtsvoll, hilfsbereit und ehrlich ist eine Person?

Während sich die Big Five in der Psychologie als effiziente Persönlichkeitsbeschreibung etabliert haben, ist die weitere Ausdifferenzierung jeder einzelnen Persönlichkeitseigenschaft nicht eindeutig geklärt. Dies ist abhängig von den Fragen (Items), die zur Erfassung verwendet werden.

Wie beschrieben wurden die Big Five so konstruiert, dass sie nur eine geringe inhaltliche Überschneidung aufweisen. Viele Konstrukte in der Psychologie sind sich allerdings auch sehr ähnlich. So kann es beispielsweise sein, dass sich ein Fragebogen zum eigenen Selbstbewusstsein kaum von einem Fragebogen zur eigenen Selbstwirksamkeit unterscheidet.

Neurose vs. Neurotizismus

Man muss grundsätzlich zwischen Neurose und Neurotizismus unterscheiden. Der Begriff Neurotizismus wird für eine von fünf Charaktereigenschaften gebraucht. Der Charakter ist per Definition etwas Stabiles, Überdauerndes und deshalb nur sehr schwer veränderbar. Ein grosser Teil ist wohl vererbt, der Rest in der Entwicklung durch Umwelteinflüsse geprägt worden. Leute mit hohen Neurotizismuswerten sind sensibler, verletzlicher und neigen deshalb eher zur Entwicklung von Neurosen.

Unter Neurosen versteht man eine störende Veränderung des seelischen Erlebens, die behandelbar ist und vorübergehen kann. Es können Zeichen für eine neurotische Störung sein, wenn man übertriebene Angst vor Krankheit oder dem Tod hat oder Gefühle wie Trauer, Wut und Verzweiflung nicht innert einer angemessenen Frist vorbeigehen.

Der Begriff Neurose ist etwa 200 Jahre alt. Er leitet sich ab vom griechischen «Neuro» für Nerv. Im 18. und 19. Jahrhundert glaubte man noch, dass Geistes- und Gemütserkrankungen mit krankhaften Prozessen im Nervensystem zu tun hätten.

Erst Sigmund Freud, der zuerst auch als Nervenarzt arbeitete, entdeckte, dass es seelische Krankheiten mit allein seelischen Ursachen gibt, die sich folgerichtig auch mit psychologischen Mitteln behandeln lassen. Er beschrieb in seiner Neurosenlehre vor allem Zwänge, Ängste und mit den Konversionen das, was man heute als psychosomatische Reaktionen bezeichnet. Es sind nicht die Nerven an sich. Man reagiert neurotisch, weil man bestimmte Lebensereignisse nicht richtig verarbeitet hat.

Oft sind es schmerzhafte Erfahrungen in der frühen und späteren Kindheit. Um zu überleben, verdrängt das Kind sein Leid, was aber zu einer Erstarrung und Einengung des Erlebens führt. Wer neurotisch ist, hat die seelische Beweglichkeit verloren. Meist führt dies auch zu Schwierigkeiten im sozialen Bereich und insbesondere in der Partnerschaft. Nicht selten sind Einsamkeit und Isolation eine Folge.

Neurosen sind grundsätzlich auch ohne Medikamente durch Psychotherapie erfolgreich behandelbar. In erkenntnisorientierten Therapien geht es darum, das Vergessene und Verdrängte durch das Gespräch oder Übungen wieder ins Bewusstsein zu holen. Dadurch, dass die unbewussten Konflikte erkannt werden, können nun Lösungen gesucht werden. Das Wiedererleben verdrängter Gefühle ermöglicht ihre Neubewertung. Sie werden nun anders abgespeichert, so dass der Betroffene dem Leben wieder freier begegnen kann.

In der psychologischen Wissenschaft wird der Begriff Neurose heute allerdings nur noch selten verwendet. Man spricht eher von seelischen oder psychischen Störungen. Jährlich erkranken 13 bis 26 Prozent der Erwachsenen in der Schweiz an einer solchen.

tags: #Neurotizismus #Definition #Psychologie